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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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entschlossen hatte, wollte er auch beginnen. Bruno war das erste Opfer. Nun hatte der, wie die meisten Jungen, nur einen kleinen Haarpony über der Stirn. Dennoch war es gar nicht so einfach, die Stoppeln gleichmäßig kurz zu schneiden. Nach einem halben Dutzend Schmerzensschreien sah sich Bruno im Spiegel und war entsetzt. Sehr blanke fünfmarkstückgroße Hautstellen wechselten mit beachtlichen Stoppelfeldern.
    »Mist«, sagte Bruno. »Ich werde die Mütze vorläufig selbst im Bett nicht mehr absetzen.«
    »Aber der Pony ist wie mit der Wasserwaage abgemessen«, lobte Hildegard. An ihren Siegfried jedoch ließ sie Paul nicht heran.
    »Erst muss der alte Hütter dir zeigen, wie man das genau anstellt.«
    Paul legte die Haarschneidemaschinen kaum aus der Hand und schnitt in den Wind. »Gehst wohl auch noch ins Bett mit Kamm und Schere«, spottete Hubert.
    Aber am dritten Tag hatte Paul den Bruno zu einem Korrekturhaarschnitt überredet. Tatsächlich war seine Hand leichter geworden und nur noch gelegentlich zuckte Bruno zusammen. Vorsorglich hatte der Junge sich von Hildegard einen Handspiegel ausgeliehen und verfolgte argwöhnisch Pauls Bemühungen. Zum Schluss jedoch musste er zugeben, dass die Jungenköpfe in der Nachbarschaft auch nicht besser aussahen.
    Siegfried wehrte sich zwar, aber diesmal blieb Hildegard selbst bei seinen Tränen hart.
    »Ganz passabel«, befand sie, als sie ihren Liebling rundum drehte und kritisch seine Frisur begutachtete.
    »Sie ärgern mich in der Schule sowieso schon immer. Ein Topf würde mir auf den Kopf gestülpt, sagen sie, und ich bekäme alles abrasiert, was darunter hervorguckt.«
    »Lass sie reden, Siegfried«, sagte Hildegard. »Mutter kauft dir eine neue Mütze.«
    »Eine Matrosenmütze?«, fragte Siegfried und zeigte sich schnell getröstet, als seine Mutter nickte.
    Es stellte sich in den folgenden Wochen heraus, dass an Hausfriseuren kein Mangel war. Paul verdiente kaum so viel, dass er Frau Kursanka die Schlafstelle davon bezahlen konnte. Er musste immer wieder zu seiner eisernen Reserve greifen. Immerhin war er noch besser dran als die meisten Streikenden. Deren wenige Spargroschen waren längst aufgebraucht. Schon murrten einige Arbeiter und fragten bitter ihre Gewerkschaftsfunktionäre nach einem Rezept, wie sie allein von Luft und Wasser überleben könnten.
    Die Regierung hatte am 7. April bereits einen Reichskommissar ernannt. Der Sozi Karl Severing sollte mit den Arbeitern verhandeln. Niemand war froher als Paul, dass diese Verhandlungen Fortschritte machten. Das Ende des Streiks war endlich in Sicht. Am 26. April kam Oberschott zu den Warczaks. Er war guter Laune und verkündete: »Übermorgen, am Montag, werden die Ärmel aufgekrempelt. Die Räder drehen sich dann endlich wieder.«
    Am Montag sprach Paul früh in der Zeche vor und fragte nach Arbeit. Seine Zeugnisse waren gut. Er schob sie über die Theke des Personalbüros. Umständlich prüfte ein ziemlich dicker, rotgesichtiger Mann die Papiere. »Ostpreuße, so, so. Bei Borsig gearbeitet. Verstehst du was von Lokomotiven?«
    »Aber sicher«, bestätigte Paul.
    »Im Lokschuppen auf der fünften Sohle brauchen wir noch einen tüchtigen Mann.« Er erhob sich unvermutet flink von seinem Stuhl und lief mit kleinen Schritten in den hinteren Teil des Büros. Dort war ein Schreibtisch mit einer spanischen Wand so abgeschirmt, dass Paul von der Theke aus nicht sehen konnte, wer daran saß. Wahrscheinlich war es der Chef des Personalbüros. Mit einer kleinen Verbeugung reichte der Dicke dem Chef die Papiere und sagte ein paar Worte. Über dem Schirm tauchte ein Mann in dunkler Jacke auf, spähte zu Paul hinüber und verschwand wieder. Der dicke Mann eilte so schnell herbei, dass sein grauer Kittel hinter ihm herwehte. Er warf die Papiere auf die Theke. »Kommen Sie Freitag wieder. Bringen Sie Ihre Papiere mit. Sie können dann wahrscheinlich Montag einfahren.«
    Paul atmete auf. Über einen Monat war er schon ohne Arbeit, aber ab Montag sollte das anders werden.
    Am Donnerstag war der 1. Mai. Die Reichsregierung hatte diesen Tag zum Tag der Arbeit erklärt. Auf dem Platz vor der evangelischen Kirche sollten sich die Arbeiter zum Maiumzug sammeln. Die Kumpel, die mit Paul bei Frau Kursanka wohnten, drängten darauf, dass ihr Zimmergenosse mit ihnen ziehe. Das gehöre sich so für einen Arbeiter.
    Hubert schaute ihn beim Frühstück verwundert an und warnte: »Streck den Kopf nur nicht zu weit aus dem

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