Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
entmutigt auf den Steinstufen der Haustreppen saßen.
»Ich finde Arbeit«, sagte er zuversichtlich. »Ich nehme jede Arbeit an, die ich bekommen kann.« Er zeigte ihr die schwieligen Innenflächen seiner großen Hände. Sie wusste schließlich, dass er noch genügend Geld hatte, um das Kostgeld zu bezahlen, dass er nicht rauchte und nicht soff, dass er nicht heimlich Knoblauch knabberte.
»Ich zeige Ihnen die Kammer«, sagte sie.
Er blickte sich nur flüchtig um. Er kannte solche Zimmer. Weiß getünchte Wände, noch schwach nach Heringsbrühe riechend, die der Farbe zugeschüttet war, damit sie sich nicht abrieb, kein Bild, kein Schrank, keine Decke auf den beiden Holzkisten. »Das ist Ihr Bett«, sagte sie und wies auf das schmalere von zwei Bettgestellen. »Ihre Sachen können Sie in die Kiste legen. Aber besorgen Sie sich ein Vorhängeschloss. Mein jüngerer Sohn Leo schnüffelt gern herum.«
»Und wer schläft in dem anderen Bett?«
»Meine Söhne Leonard und Dietrich. Sie sind ungefähr in Ihrem Alter.«
Paul nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. In Gelsenkirchen, bei Frau Kursanka, hatte er das Zimmer mit drei anderen Kostgängern geteilt, in Berlin war es auch nicht besser gewesen. Zwar hatte er dort nur zwei Zimmergenossen gehabt, aber die kleinen braunen Linsen mit den sechs Beinen waren zahlreich gewesen und hatten manche Nächte zur Qual werden lassen.
Er setzte sich in der Küche an den Tisch dem Mann gegenüber. Sie hantierte in der Ecke am Herd und briet Kartoffeln für das Abendessen. Über die Schulter hinweg fragte sie: »Damit ich es nicht vergesse: Sie sind doch evangelisch, wie?«
Er schwieg verlegen und antwortete dann zögernd. »Nein.«
Sie fuhr herum und duzte ihn plötzlich. »Was bist du dann? Hast du Gott mit dem Konfirmationsanzug ausgezogen?«
»Nein, ich hatte nie einen solchen Anzug. Ich bin katholisch.«
»Auch das noch«, murrte sie. »Der Johann Zirbel ist doch bis jetzt immer zuverlässig gewesen. Einen Katholiken hat er mir noch nie empfohlen. Er weiß doch, dass wir evangelisch sind.«
Sie rührte wild in der Bratpfanne und stieß dann hervor: »Das geht nun doch nicht. Essen Sie gleich mit uns, aber weiter geht’s dann nicht.«
Der Mann öffnete jetzt seinen Mund. Paul hörte es bei den ersten Worten: Er hatte die weiche, melodische Aussprache der Masuren. »Mathilde«, sagte er, »kannst doch diesen Menschen nicht in die Nacht hinausschicken. Wo soll er am Samstagabend ein Quartier finden? Meinst, das sollte ihm gefallen, unserm Herrgott?« Sie schwieg verbissen.
Paul schaute auf den Kalender und las halblaut: »Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel …«
Sie unterbrach ihn scharf. »Sie brauchen mir die Bibel nicht beizubringen, Junge.« Sie hob die Pfanne vom Herd und brummte: »Na gut, für diese Nacht mögen Sie bleiben. Aber dann ist Schluss. Schließlich haben wir eine erwachsene Tochter.«
»Franziska ist über vier Jahre in Holland, Mutter«, warf der Mann ein und zwinkerte Paul zu.
Der Bratduft lockte die Söhne herbei. Leo und Ditz wurden sie gerufen. Sie hatten schon einige Kostgänger kommen und gehen sehen und nahmen Paul gleichgültig hin.
Später, als sie in die Kammer gegangen waren, packte Paul seinen Karton erst gar nicht aus, und als Ditz sich darüber wunderte, da erzählte er, dass er nach dem Willen ihrer Mutter nur Kostgänger für eine Nacht sei.
»Was ist denn eigentlich so Besonderes an der Franziska, eurer Schwester?«, erkundigte er sich.
Leo lachte und prahlte: »Sie ist das schönste Mädchen, das du dir vorstellen kannst. Im Krieg, 1915, ist sie nach Holland zu unserer Tante Billa gegangen. Sie lernt dort Schneiderin.« Und dann begannen die Brüder, ausführlich von ihrer Schwester zu erzählen. Ziemlich groß sei sie und hätte schmale, zarte Hände und Haare, braun und seidig wie ein Langhaardackel, und überhaupt, sie sei ein ungewöhnlich schönes Mädchen. Schon glaubte Paul, die beiden seien über ihren Schwarmbildern in Schlaf gesunken, da fügte Ditz noch hinzu: »Das Sonderbarste sind ihre Augen. Du wirst es kaum glauben, aber sie hat glasklare grüne Augen und im rechten Auge, mitten in dem Flaschengrün, da sitzt ein braungoldener Stern.«
»Ihr wollt mich auf den Arm nehmen«, sagte Paul.
Ditz blieb dabei und antwortete: »Glaub’s oder glaub’s nicht.«
Paul konnte lange nicht einschlafen. Er hörte die Kirchturmuhr eins schlagen und halb zwei. Er hatte Durst, stand leise auf und schlich sich in
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