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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Fälle, weißt du.«
    »Am liebsten würde ich mit dir gehen«, sagte der Junge. »Da in der Nähe von Karl, da soll doch der aus dem Freikorps zu Hause sein, der auf Wilhelm geschossen hat.«
    »Gib’s endlich auf, nach dem zu suchen«, riet Paul.
    »Nie!«, widersprach Bruno heftig.
    »Lass gut sein«, versuchte Paul den Jungen zu beruhigen. »Ich verspreche es dir, ich melde mich sofort, und wenn es hier für dich ganz und gar nicht mehr geht, dann kommst du mir nach. Aber zuerst muss ich wieder Boden unter die Füße bekommen. Wird höchste Zeit dafür. Das Herumsitzen macht mich krank. Manchmal denke ich schon, ich bin nichts mehr wert. Keiner braucht mich.«
    »Ich brauche dich, Paul«, sagte Bruno.
    »Ist gut, Bruno«, antwortete Paul und er dachte: Er hängt an mir wie eine lästige Klette. Aber irgendwie tut es doch gut, wenigstens für einen Menschen wichtig zu sein.

11
    Alles, was Paul besaß, hatte er mühelos in einen Pappkarton packen können. Das Gewicht zerrte ihm den Arm lang und die Hanfschnur, mit der das Paket sorgsam verschnürt war, schnitt ihm in die Handflächen.
    Der Weg vom Bahnhof bis zu der Vorstadtstraße, deren Namen Zirbel ihm auf einen Zettel geschrieben hatte, zog sich hin. Erst hatte er nach dem Stadtteil gefragt, dann die Blütentalstraße genannt. Eine merkwürdige Straße war das, in die er schließlich einbog. An der Ecke türmten sich düstere, wuchtige Mietblöcke, fünf Geschosse hoch oder mehr, die zwischen sich nur ein schmales Blauband des Himmels frei ließen. Daran schlossen sich abrupt etliche unbebaute Grundstücke an, von mannshohen Bretterzäunen gesäumt, zweigeschossige Häuser folgten, teils aneinandergereiht, teils einzeln stehend. Gegen das Ende der Straße zu hockten ein paar schmalbrüstige Einfamilienhäuser unter spitzen Ziegeldächern. In der Blütentalstraße wiederholte sich auf wenigen Hundert Metern zusammengerafft das Bild der Stadt: Im Zentrum wuchernde Steintürme bis in die Wolken, wilde Flächen folgten zu den Vorstädten hin, allmähliches Ausfransen bis ins Bauernland hinein.
    Paul war aufgeregt, als er das Haus Nummer 17 erreichte. Es war gelblich getüncht, zweieinhalb Stockwerke hoch, die Haustür innen liegend über drei großporige Basaltstufen zu erreichen. Auf einen Blick waren die Namensschilder zu überfliegen: Cremmes, Reitzak, Borboschilski. »Reitzak, zweimal schellen«. Paul drückte die Klingel, eine ältere schmale Frau beugte sich aus dem Fenster der ersten Etage. »Hallo!«, rief sie.
    Er trat aus dem Haustürloch auf die Straße zurück. »Der Zirbel schickt mich. Er sagt, Sie nähmen Kostgänger.«
    »Warten Sie bitte!« Sie verschwand für einen Augenblick und warf dann den Hausschlüssel, in Zeitungspapier eingewickelt, hinab auf die Straße. »Kommen Sie herauf!«, sagte sie.
    Er sprang die Treppen hinauf und stand am Ende eines finsteren Flurs. Als sich eine Tür öffnete, flutete Licht herein. Bevor er noch die Küche betrat, schaute die Frau ihm ins Gesicht und fragte: »Wie alt?«
    »Einundzwanzig.«
    »Ledig?«
    »Ja.«
    »Aus dem Osten?«
    »Ja, aus einem Dorf bei Ortelsburg.«
    Er bemerkte, dass ihr das nichts sagte, und fügte hinzu: »Ortelsburg, Ostpreußen.«
    Sie nickte. »Kommen Sie!«
    Sie gab die Türöffnung frei. Die Küche schien geräumig, wohl auch, weil sie nur mit den unbedingt notwendigen Möbeln ausgestattet war. Das eine Fenster zum Hof hin ließ das Abendlicht herein. Hinter dem Tisch auf einer Holzbank saß ein stoppelhaariger, etwa fünfzigjähriger Mann. Der starrte ihn aufmerksam an, sprach aber nicht. Das Wort führte die Frau. Beinahe konnte man es ein Verhör nennen. Paul kannte solche Augenblicke. Er antwortete, hielt aber seine Augen auf einen Wandkalender gerichtet, auf dem in großen Buchstaben zu lesen stand: »Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester.« Dann wurden die Druckbuchstaben kleiner und Paul konnte sie nicht mehr entziffern.
    Nach knapp fünf Minuten wusste die Frau fast alles über ihn. Dass er im letzten Kriegsjahr, kaum neunzehnjährig, noch Soldat geworden war; dass er 1917 seine Schlosserlehre mit Erfolg beendet hatte; dass er für ein paar Monate Arbeit bei Borsig in Berlin gefunden hatte; dass er seit sechs Wochen arbeitslos war. Sie hatte ihn misstrauisch angeschaut, aber in seinem Gesicht nicht jenen Ausdruck von Gleichgültigkeit entdeckt, den sie von den arbeitslosen jungen Männern kannte, die in der Straße wohnten und die stundenlang träge und

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