Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
die Küche. Er wollte einen Schluck Wasser trinken. Am geöffneten Fenster stand der Mann, die Hose übergestreift und das Hemd über der Brust offen.
»Schmorra, Schmorra«, hörte er ihn beschwörend flüstern. »Lass ab von mir, Schmorra. Ich verspreche es. Ich werde nicht dulden, dass er weggejagt wird.«
Betreten zog sich Paul in die Kammer zurück. Fast hatte er Schmorra vergessen. In den masurischen Holzhäusern war sie daheim, hockte sich in manchen Nächten den Menschen auf die Brust und sperrte ihnen die Luft ab. Schmorra, Schmorra, sagten sie dann, wenn sie schweißgebadet aus schweren Alpträumen aufschreckten, und versprachen Himmel und Erde, wenn sie nur von ihnen ablasse. Wie viele Jahre hatte er den Bannruf nicht mehr gehört. »Aberglaube«, hatte sein Vater gemurrt. Aber sein Vater war auch kein Masure. Die Mutter, die als Kind mehr Masurisch als Deutsch gesprochen hatte, die hatte er gelegentlich »Schmorra, Schmorra« murmeln hören, und jedes Mal stand ihr die Angst in den Augen und sie war ihm fremd und fern vorgekommen.
Über den Kindheitserinnerungen schlief Paul schließlich ein.
Beim Frühstück ging es hitzig zu. »Ich bin allein für die Kostgänger zuständig«, trumpfte Frau Reitzak auf.
»Und ich habe versprochen, dass er bleiben kann«, entgegnete der Mann.
»Schmorra, wenn ich das schon höre!« Die Frau wurde zornig. »Abergläubisch wie ein Wasserpolak aus den Sümpfen.«
Der Mann sprang auf. Seine Adern am Hals schwollen. »Er bleibt!«, sagte er leise und starrte seine Frau an. Sie schwieg. Ihr angebissenes Frühstücksbrot blieb mitten auf dem Teller liegen.
Nach einer Weile versuchte der Mann einzulenken. »Warten wir eine Woche lang auf ein Zeichen«, schlug er vor. »Wenn sich in den nächsten sieben Tagen nichts ereignet, dann muss er gehen.«
»Mit und ohne Schmorra?«, fragte sie voller Spott.
»Ja«, stimmte er zu. »Aber ich hab’s geträumt. Irgendetwas geschieht.«
In dieser Woche berieten die Brüder ihren Zimmergenossen, wie er ein Zeichen herbeizwingen könne. »Locke Cremmes’ Tauben vom Dach und lass sie aus deiner Hand fressen. Das hat unser Vater schon Jahre vergeblich versucht. Wenn du das schaffst, dann wäre das für ihn ein Zeichen«, sagte Ditz. »Versuche, Arbeit zu finden in der Baron-Brauerei«, schlug Leo ihm vor. »Das wäre für Mutter wie ein Wunder, wenn du als Katholik dort eine Stelle bekämst.«
Die Baron-Brauerei war nämlich ein alteingesessener Familienbetrieb, hoch angesehen und von der Familie Baron bis hin zum Pförtner Denkhoff evangelisch. Das war darauf zurückzuführen, dass die Arbeiter ihre Firmentradition bis auf die Urgroßväter zurückrechneten. Damals gab es in dem ganzen Ort noch keine zugewanderten Katholiken und weil die Söhne den Vätern in die Brauerei folgten, blieb es dabei: Die Baron-Leute waren evangelisch.
Paul wagte den Versuch und stellte sich in der Brauerei vor. Es gelang ihm, bis zu Braumeister Wiener vorzudringen. Der fragte: »Was kannst du?«
»Ich bin ein Schlosser mit guten Zeugnissen«, antwortete Paul. Weil das offenbar nicht ausreichte, fügte er hinzu: »Wenn es sein muss, kann ich ein volles Bierfass dreimal in die Luft stemmen.«
»Das will ich sehen«, sagte der Braumeister. Er rief noch einige Männer dazu, die den starken Paul miterleben wollten. Sie führten ihn in die Lagerhalle. Fass reihte sich dort an Fass. Paul hatte noch niemals so gewaltige Fässer gesehen. Er versuchte erst gar nicht, eins anzuheben. »Sagt’s doch gleich, wenn ihr mich nicht einstellen wollt«, grollte er.
Wiener lachte und sagte: »Wer weiß! Wie viel Bier kannst du denn vertragen, ohne aus den Pantinen zu kippen?«
»Was soll das nun wieder?«, fragte Paul misstrauisch.
»Wir wollen sehen, ob du ein Mann bist.«
»Bei uns misst man die Schweine danach, wie viel sie saufen und fressen«, antwortete Paul und ließ die Männer stehen.
»Nimm’s nicht persönlich. Wir haben schon seit einem halben Jahr niemand mehr eingestellt«, tröstete ihn der Pförtner.
Und Katholiken schon gar nicht, dachte Paul.
Er versuchte, die Tauben herbeizulocken. Als Junge hatte er oft ihr Gurren so getreu nachgeahmt, dass ihm die eine oder andere ins Zimmer geflogen war. Er flötete am geöffneten Fenster, leise, ausdauernd. Die Vögel ließen sich täuschen. Zwei flatterten vom First zur Dachrinne und eine saß schließlich von außen auf seiner Fensterbank. Da stapfte Frau Reitzak in die Kammer und die Vögel stoben
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