Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Reitzak. In diesem Herbst war das Bild berechtigt; denn wer einen Garten gepachtet hatte, der wollte sicher Kartoffeln und Gemüse ernten, aber sein Stolz galt, noch vor dem schwersten Kohlkopf und der dicksten Tomate, den Rosen, den Dahlien, den Astern und den Löwenmäulchen.
Karls Garten lag nicht in dieser Anlage, sondern auf der anderen Seite, weitab von der Straße. Eine Pumpstation war dort gebaut worden. Die Absenkung des Bodens durch den Kohleabbau hatte sie nötig gemacht, wenn nicht der ganze Stadtteil im Wasser versinken sollte. Hier wurden auch die Abwässer in riesigen, von Erdwällen umgebenen Becken geklärt, bevor sie in das Rheinbett gepumpt wurden. Um die Pumpstation herum erstreckte sich Ödland, auch ausgebeutete Lehmgruben, Flächen, mit Holunder bewachsen, Wildnis. Zwischen zwei solcher Gruben war, über einen schmalen Pfad erreichbar, eine Halbinsel entstanden. Genau auf dieser hatte Karl seinen Garten hergerichtet. Aus Schwemmholz, das Karl auf dem Fahrrad vom Rhein herbeigeschafft hatte, und aus einigen Abfallbalken vom Abriss eines alten Hauses hatte Paul eine Laube errichtet.
An einem warmen Spätherbsttag lud Karl zur Einweihung ein. Zugleich war dieses Fest der Abschied von Karls Junggesellenleben. Der Streik war nach drei Wochen endlich zu Ende gegangen. Es gab wieder Arbeit und Lohn. Genauer: Es gab viel Arbeit auf der Werft, denn während der Streikwochen war kein einziger Kahn repariert worden, von neuen Schiffsbauten gar nicht zu reden. Die erstreikte Lohnerhöhung war eher spärlich ausgefallen. Aber dennoch: Karl wollte endlich heiraten. Am Montag sollte es in sein Heimatdorf in den Schwarzwald gehen, wo auch Resi wohnte. Eine Woche später würden beide ihre kleine Wohnung beziehen.
»Länger als eine Woche kann ich nicht auf dich verzichten, Karl«, hatte der Meister Willi Rath gesagt und Karl hatte dem Freund versprochen: »Kannst dich auf mich verlassen, Willi. Ich bin in einer Woche zurück.«
Ditz und Franziska waren mit dem Fahrrad über die Rheinbrücke zum linken Niederrhein gefahren. Sie hatten einen Passierschein bekommen, weil eine alte Verwandte auf den Tod krank lag. Belgische Truppen hielten das linke Rheinufer besetzt. Auf der Brücke waren die Papiere sorgfältig überprüft worden. Über eine Stunde lang mussten sie warten. Bei der Rückkehr trafen sie zum Glück auf eine großzügigere Brückenwache. Die Äpfel, die sie in einem Korb offen mit sich trugen, wurden nicht beanstandet und das darunter versteckte Mehl, sechs Eier und ein ganzes Pfund Schmalz blieben unentdeckt. Die Reitzaks hatten in den Dörfern rund um Xanten mehrere Verwandte und die hatten diese Schätze mitgegeben.
Als Mutter Reitzak hörte, dass auch Franziska bei Karl eingeladen war, hatte sie eine ganze Platte Apfelkuchen gebacken.
Franziska hatte nicht gleich zugesagt und angedeutet, dass sie vielleicht Besuch aus Holland bekäme. Aber nachdem ein blassblauer Brief angekommen war, sagte sie: »Ich komme mit.«
Willi Rath kannte jemand aus der Baron-Brauerei und war billig zu einem Kasten Bier gekommen. Es wurde ein fröhliches Fest.
Anneken Rath war ein Typ, der niemals leise sein konnte. Das machte allein schon ihre tiefe, sehr kräftige Stimme unmöglich. Ihr Mann Willi stand ihr in nichts nach. Offenbar hatte er sich durch den Lärm in der Werft angewöhnt, stets laut zu sprechen. Aber im Gegensatz zu Annekens Tieftönen klang seine Stimme eher hektisch und schrill.
Karl, der bislang von seiner Braut Resi nur wenig erzählt hatte, berichtete nun ausführlich von den Hochzeitsvorbereitungen, von den Bräuchen im Dorf, von ihrer gemeinsamen Kindheit, von den Eltern und von dem schönen Tal, in dem er gelebt hatte.
Ehe sie sich’s versahen, brach die Dämmerung herein.
»Hallo!«, rief jemand laut.
Willi Rath antwortete und rief: »Suchen Sie was?«
»Mensch, Willi«, tönte es zurück, »wo habt ihr euch nur versteckt?«
Ein schwarzhaariger Krauskopf tauchte aus dem Buschwerk auf. Hand in Hand mit ihm ging eine zierliche Frau.
»Jakob! Henriette!«, schrie Karl begeistert. »Wartet! Ich führe euch her.« Er rannte den Pfad entlang.
»Familie Krebber«, sagte Willi Rath zu Paul und Franziska. »Sie sind Rheinschiffer und fahren auf der ›Annette II‹. Ihr Kahn liegt bei uns in der Werft auf der Helling. Sie hatten eine kleine Havarie. Karl und ich kennen Jakob Krebber aus dem Krieg.«
Es wurde eng in der kleinen Laube. Sie mussten auf der Bank zusammenrücken. Paul
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