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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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da befinde es sich heute noch.
    In seiner Schultasche habe Bruno nach dem letzten Schultag ein in Weihnachtspapier eingeschlagenes Päckchen gefunden. Er habe nicht warten wollen bis zum ersten Weihnachtstag. Das Päckchen sei von Papa Haller gewesen: Ein herrliches Buch, Robinson Crusoe, sei darin gewesen. Ein Buch mit vierundfünfzig sehr schönen Bildern. Der letzte Satz in Brunos Brief lautete: »Ich möchte am liebsten auch wie Robinson sein. Am besten auf einer ganz einsamen Insel. Viele Grüße, dein Bruno Kurpek aus Liebenberg, zur Zeit in Gelsenkirchen.«
    Seltsamerweise war es Leo, der die Stille brach, die eintrat, als Paul den Brief sinken ließ. Er sagte: »Armer Bruno Kurpek.«
    Frau Reitzak sah ihren Sohn überrascht an. Ditz spottete und sagte zu Leo: »Kannst ihn ja fragen, ob er dich mitnimmt auf die einsame Insel. Als Robinsons Diener Freitag, oder so.«
    »Halt den Mund, Kerl!«, fuhr ihn der alte Reitzak an. Und dann geschah etwas, was Frau Reitzak nach vierundzwanzigjähriger Ehe für unmöglich gehalten hatte, denn selbst die wenigen Entscheidungen, die Martin jemals gefällt hatte, waren niemals ohne sie oder gar gegen sie zustande gekommen. Der alte Reitzak schaute Paul an und sagte ein paar Worte auf Masurisch zu ihm.
    »Was redet ihr wieder in einer Sprache, die wir nicht verstehen können«, beklagte sich Franziska.
    »Es ist schnell übersetzt«, antwortete Paul. »Dein Vater hat gesagt, ich kann den Bruno herkommen lassen.«
    Gleich am Neujahrstag schrieb Paul an die Warczaks und legte eine Nachricht für Bruno dazu.
    Aber eine Woche verging und weder Hubert noch Hildegard ließen etwas von sich hören. Auch der Junge antwortete nicht.
    »Es liegt an den Eisenbahnen«, vermutete Franziska. »Die streiken. Die Post wird nicht befördert.«
    Tatsächlich lag seit dem Dreikönigstag der gesamte Verkehr lahm. Nur die Kohlenzüge rollten über den Rhein nach Frankreich und Belgien.
    Am Mittwoch, dem 14. Januar 1920, las der alte Reitzak am Spätnachmittag aus der Zeitung vor, dass die Linken eine gewaltige Demonstration vor dem Reichstag in Berlin auf die Beine bekommen hatten. Sie protestierten gegen ein Gesetz, das den Räten in den Betrieben nur wenige Rechte einräumte. »Stellt euch vor«, sagte Reitzak, »sie haben auf die Menge geschossen, als einige Männer und Frauen versuchten, in den Reichstag einzudringen. Zweiundvierzig Tote und über hundert Verletzte. Der Ausnahmezustand ist von Reichspräsident Ebert verhängt worden.«
    Ditz hatte diese Nachricht bereits von Hermann Cremmes gehört. »Der Hermann hat gesagt: ›Das ist der Totenschein für das Rätesystem.‹«
    »Der Hermann möchte am liebsten einen Totenschein für die Demokratie ausstellen«, sagte Paul.
    Leo mischte sich ein und verteidigte Hermann: »Der Hermann ist in Ordnung. Was habt ihr gegen den? Ihr seid wohl neidisch, weil der eine feste Arbeit bei der Bahn hat? Er wird demnächst wieder für die Strecke nach München eingeteilt. Er kann es dann so einrichten, dass er für ein paar Tage dort bleibt.«
    »Macht er dort windige Geschäfte?«, fragte Ditz bissig.
    »Nein, er ist politisch da. Einen Adolf Hitler hat er in München kennengelernt. Hermann sagt, der Hitler und die Deutsche Arbeiterpartei, die wüssten, wohin es mit Deutschland gehen muss. Von Versammlung zu Versammlung kämen mehr Menschen zusammen. Das seien aber keine Redenschwinger, das seien Männer der Tat.«
    In diesem Augenblick pochte es an die Tür. Überrascht schauten die Reitzaks auf den Gast, der, in Schwarz gekleidet und mit einem runden weißen Kragen bis oben hin zugeknöpft, eintrat und Guten Abend wünschte.
    »Ich bin Kaplan Klauskötter«, sagte er.
    »Ja?«, fragte Frau Reitzak. »Kommen Sie bitte nach vorne!«
    Sie stand auf und wollte die Tür zum Wohnzimmer öffnen.
    »Das ist nicht nötig«, sagte Kaplan Klauskötter und setzte sich an den Küchentisch.
    »Sie wollen sicher nach dem Schäfchen aus Ihrer Herde sehen, nach dem Paul Bienmann«, vermutete Frau Reitzak.
    »Nicht direkt«, antwortete der Kaplan. »Den Paul wollte ich ja mal im Gesellenhaus unterbringen.«
    »Das ist ja nun nicht mehr nötig.« Frau Reitzak wurde verlegen. Sie kam Paul befangen vor.
    »Eigentlich wollte ich mehr zu der Familie Reitzak«, sagte der Kaplan und über sein jungenhaft pausbackiges Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
    »Wir sind evangelisch, wissen Sie«, sagte Franziska abwehrend.
    »Derselbe Jesus, nicht wahr?«, war die Antwort.
    Aber

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