Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Katholiken sagt doch dazu auch Gewissen, oder?«
»Und was sagt ihr?«
»Wir reden von dir. Ich habe gehört, dass ein Christ vor allem dem folgen soll, was sein Gewissen ihm sagt.«
»Soll ich den Bruno etwa hierher holen? Er ist im letzten Schuljahr. Die Warczaks sind entfernt mit ihm verwandt. Der Hubert hat Einfluss auf der Zeche und wird ihm eine Lehrstelle besorgen. Die Hildegard könnte ihm die Mutter ersetzen.«
»Will sie das auch?«, fragte Franziska. »Nach allem, was du mir von Hildegard Warczak erzählt hast, hat sie zwei Kinder, nämlich ihren Sohn Siegfried und ihren Mann Berti. Und wenn sie beide hochbringen will, dann muss sie sich ganz schön abstrampeln. Der Bruno ist ihr dabei ein Klotz am Bein.«
»Ich kann den Jungen doch nicht zu mir nehmen.«
»Ich würde mit meiner Mutter sprechen. Die Kammer, die hinter eurem Zimmer liegt, die müsste ausgeräumt werden. Die Badewanne, der große Waschkessel, die Fahrräder von Ditz und Leo, der alte Kleiderschrank, das ganze Gerümpel steht nur da herum. Das meiste kann in den Keller. Ich denke, es müsste gehen.«
»Es ist, Franziska …« Paul stockte. »Es ist nicht nur der Schlafplatz. Ich stecke in großen Schwierigkeiten auf der Zeche.«
»Ist nichts mit dem Lokschuppen, wie?«
»Der Steiger möchte wohl gern, aber der Pudlak, der Maschinenhauer, hat irgendwie herausgekriegt, dass ich in Gelsenkirchen auf der schwarzen Liste stehe. Der Maschinensteiger hat mich gefragt, ob das stimmt. Ich habe es zugegeben. Da hat er die Schultern gezuckt. ›Schade‹, hat er gesagt.«
»Vielleicht wächst irgendwann mal Gras darüber.«
»Jetzt warte ich schon drei Monate auf Gras, aber in vierhundert Metern Tiefe, da wächst Gras langsam.«
»Pass nur auf, dass sie dich nicht beim geringsten Anlass feuern.«
»Das ist es ja. Selbst wenn deine Mutter zustimmt – kann ich dem Jungen schreiben: Komm? Ich mache mich auf dem Pütt schon klein, sooft ich nur kann. Aber immer ducken, das ist nichts für mich. Und der Junge, der würde mich vielleicht dazu bringen, dass ich noch öfter klein beigebe.«
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Dann erhob sie sich und sagte: »Also, ich rede doch mit meiner Mutter.«
Er wunderte sich, wie sehr sie seine geheimen Gedanken und Wünsche erriet, und widersprach nicht.
Er braucht eine Art Zuhause, der Junge, dachte Franziska. Ich kann das beurteilen. Mit vierzehn für Jahre von Mutter und Vater weg … Für mich war’s ein Alptraum.
Laut sagte sie: »Ich werde mit meiner Mutter reden. Der Bruno braucht ein Zuhause.«
Es war dunkel geworden und sie mussten die Stufen mit den Füßen ertasten.
»Du solltest mit dem Willi Rath und deinem Freund Karl sprechen. Sie suchen doch Schlosser auf der Werft.«
»Vielleicht später mal«, wich Paul aus.
15
»Habe ich nicht genug Sorgen mit meinen eigenen Söhnen?«, fragte Frau Reitzak ihre Tochter, als Franziska ihr auseinanderlegte, dass es gut möglich sei, den Bruno in der hinteren Kammer unterzubringen.
»Na, Mutter, sei nicht ungerecht! Der Ditz ist doch ein Musterknabe. Er hat eine gute Gesellenprüfung gemacht und gibt dir Woche für Woche die Lohntüte mit dem gesamten Geld.«
»Sicher, streich du den Ditz nur heraus. Aber was ist mit Leo? Zum zweiten Mal hat er seine Lehre abgebrochen. Erst hat ihn der Meister in der Hütte nach zweieinhalb Lehrjahren gefeuert, dann hat der Friseur Köllkamp zu Vater gesagt, wir sollen den Jungen zu Hause behalten. Er jedenfalls könne den Leo nicht mehr gebrauchen. Und weil der Köllkamp das genau in dem Augenblick sagte, als er Vater mit dem Messer an der Kehle herumkratzte, durfte Vater nicht mal zusammenzucken.«
»Und warum musste Leo gehen, Mutter?«
»Ach, lassen wir das«, wehrte Frau Reitzak ab. Zu Bruno sagte sie nicht Ja und auch nicht Nein.
Am Silvestertag kam ein weiterer Brief von Bruno an. Paul las ihn am Nachmittag vor. Es stand darin, dass Bruno zu Weihnachten von Hubert ein paar richtige Lederschuhe geschenkt bekommen habe und von Siegfried Briefmarken von Deutsch-Südwest-Afrika und von Togo. Er, Bruno, habe der Hildegard ein Brettchen aus Palisanderholz so lange geschmirgelt, bis es sich weich in seine Hand geschmiegt habe. Neun Haken habe er eingeschraubt. Er wolle sich nicht loben, aber selbst Hubert habe gesagt, ein schöneres Schlüsselbrett habe er noch nicht einmal im Kaufhaus gesehen. Hildegard aber habe es wohl nicht gefallen. Sie habe es schnell oben auf den Küchenschrank gelegt und
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