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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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stehen musst, ich rate dir, hab Geduld mit ihm.«
    »Er gibt mir nichts, dir nichts die Lehrstelle auf!«
    »Weißt du, Paul, manche Arbeit ist wirklich so, dass der Mensch daran kaputt gehen kann.«
    »Ach was. Ich habe auch nicht die Arbeit, von der ich träume. Jeder muss sich durchbeißen.«
    »Für mich ist die Schufterei auf der Hütte, jede Schicht von Neuem eine Qual, Paul«, sagte Martin Reitzak leise. »Ich hätte diese Arbeit abschütteln sollen. Aber ich habe damals nicht den Mut dazu gehabt. Die Kinder waren noch klein. Jeden Freitag wurde gezählt, was in der Lohntüte steckte. Ich wäre lieber mit Tieren umgegangen. Das hab ich schon als Kind in Masuren gern getan. Mensch, Paul, wenn ich da drüben den Pferdestall der Brauerei sehe, es käme mir nicht darauf an, wie lange ich jeden Tag dort arbeiten müsste. Aber in der Hütte, da schau ich auf die große weiße Uhr. Je mehr es auf Feierabend zugeht, desto langsamer schleicht die Zeit. Die Uhr scheint eingeschlafen zu sein, das Fett in den Lagern verhärtet oder weiß der Teufel, was. Aber dann endlich zuckt der große Zeiger auf die Zwölf. Ich habe im gleichen Augenblick meine Hände frei.«
    »Papa«, fragte Leo, »was arbeitest du denn eigentlich genau auf der Hütte?«
    Als er die erstaunten Blicke von Paul und seiner Mutter sah, fügte er hinzu: »Na ja, irgendwas am Hochofen. Mit Kalk oder so. Aber genau weiß ich’s nicht. Papa spricht ja nie darüber.«
    »Ja, hast recht. Ich schieb’s weg, denk selber nicht mehr dran, wenn Feierabend ist. Aber warum soll ich’s nicht erzählen.
    Ich kämpfe jeden Tag gegen ein staubiges, graues Untier an. Es liegt platt und schwer in einem Eisenbahnwaggon. Aber ich packe meine Schaufel und geh ran. Sicher, jeden Morgen hab ich erst Angst, dass es mich schafft. Ich zeige ihm die Angst nicht. Ich gehe wie wütend auf das böse Tier zu und schaufle ihm ein Teil nach dem anderen aus dem trägen Leib. Ich schwitze. Das Tier bläst mir seinen giftigen Atem auf die Haut. Das juckt und zwackt. Die Augen beginnen zu tränen, die Nase läuft, es beißt mich im Hals.
    Zweimal lasse ich ab, um 9 und um 12, spüle mir den Mund aus, trinke, zwänge einen Bissen hinunter. Und dann, endlich, nach acht Stunden habe ich das Tier überwunden. Ich bin Sieger geblieben, heute noch mal Sieger. Ich bin schlapp. Im Rücken sticht’s wie mit Messerspitzen, die Arme wiegen drei Zentner. Aber ich habe das Ungeheuer besiegt. Ich stelle meine Schaufel in die Bude. Der Waggon ist leer. Einen ganzen Eisenbahnwaggon Kalk hat der Hüttenarbeiter Martin Reitzak leer geschippt. Am Montag, am Dienstag, am Mittwoch …«
    »Hör auf, Martin, bitte hör auf«, sagte Frau Reitzak.
    »Am Donnerstag auch, Papa?«, fragte Leo. Aber sein Spott traf nicht. Er hatte Tränen in den Augen.
    Als Paul später zu Bruno in die Kammer gehen wollte, fand er die Tür verschlossen.

22
    In den nächsten Tagen wirkte Bruno verstört, hockte stundenlang herum und kaum ein Wort war aus ihm herauszubekommen. Wenn jemand vorsichtig das Gespräch auf Lohmüller brachte, dann stand Bruno abrupt auf und verkroch sich in seine Kammer.
    »So geht es mit dem Bruno nicht weiter«, sagte Frau Reitzak. »Er hat ein gutes Zeugnis und einen hellen Verstand. Ich werde die Sache mal in die Hand nehmen.«
    »Was willst du machen?«, fragte Franziska.
    »Ich werde zum Direktor der Sparkasse gehen. Der Bruno hat eine gestochene Schrift. Vielleicht stellt Herr Knüfelberg den Jungen ein. Ein kleiner Stehkragen bei der Arbeit ist besser als der schönste blaue Arbeitsanzug. Für Bruno wäre die Sparkasse genau richtig. Das meint der Paul auch.«
    »Misch dich nicht ein, Mathilde, und spar dir den Weg. Der Direktor wird dich gar nicht erst anhören. Der gibt sich mit uns kleinen Leuten nicht ab.«
    »Direktor Knüfelberg ist uns noch etwas schuldig«, beharrte Frau Reitzak.
    »Ist uns etwas schuldig?«, fragte Franziska erstaunt.
    »Gold gab ich für Eisen«, sagte Leo geheimnisvoll.
    »Ich möchte nicht darüber sprechen«, sagte Frau Reitzak und drohte dem Leo: »Und du halt gefälligst deinen Mund.«
    Am letzten Mittwoch im April zog Mathilde Reitzak ihr »Grünes« an, das Kleid, das sie sonst nur an besonderen Festtagen trug. Es war um die Hüften herum ein wenig zu weit geworden. Sie steckte ihr Sparbuch und auch Brunos Papiere in die Handtasche und schaute noch einmal in den Hängespiegel.
    »Siehst immer noch gut aus«, sagte Martin Reitzak.
    »Die Falten um Hals und Augen,

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