Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
die grauen Strähnen, Martin, du musst dir eine neue Brille verschreiben lassen«, maulte sie. Aber es tat ihr doch gut, dass ihr Mann sie schön fand.
    Sie brauchte in der Sparkasse nur wenige Minuten zu warten, dann trat Direktor Knüfelberg, ein fülliger Glatzkopf in den Fünfzigern, eilfertig aus seinem Zimmer und bat sie herein.
    »Ich habe Sie lange nicht gesehen, liebe Frau Reitzak«, sagte er leutselig. Sie schwieg und starrte auf seine Hände, die in steter Bewegung waren. Die Haare, die auf seinem Kopf fehlen, die hat der Affe auf dem Handrücken zu viel, dachte Frau Reitzak. Sie zog ihr Sparbuch aus der Handtasche und schob es ihm über den Tisch zu. Er blätterte unsicher darin herum und sagte schließlich: »Hübsches Sümmchen. Über achttausend Mark.«
    »Kann ich ein zweistöckiges Haus dafür kaufen?«, fragte sie.
    Er kicherte und antwortete: »Aber Frau Reitzak, das reicht nicht einmal für eine Hundehütte.«
    »Eben«, sagte sie.
    Was will die Frau von dir, dachte der Direktor und blätterte wieder in dem Buch.
    »Aber wenn ich diese Summe in Gold auf den Tisch legen würde?«, fragte sie.
    »Sie meinen in richtigen alten Zwanzigmarkstücken?«
    »Ja, das meine ich.«
    »Nun«, sagte er, »dann könnten Sie vielleicht zwei Häuser kaufen.«
    »Sehen Sie«, sagte Frau Reitzak, »Sie werden sich vielleicht erinnern. Ich besaß diesen ganzen Betrag in Gold. Ich habe das Haus verkauft, das ich geerbt hatte, als mein erster Mann gestorben war. In meiner Kiste lagen die Goldstücke sauber eingerollt zu je fünfzig Stück. Dann habe ich Sie um Rat gefragt, Herr Direktor, ob ich das Gold hingeben solle, als der Kaiser dazu aufrief. Und Sie haben mir zugeredet, es für Kaiser und Vaterland zu geben. Das Papiergeld sei so sicher wie der Tresor in Ihrem Sparkassenkeller und Sie stünden gerade dafür.«
    »Ich erinnere mich.« Allmählich dämmerte es dem Direktor. Wieder eines dieser Weiber, die keine Ahnung hatten von Geld und Gut. »Liebe Frau, für das Vaterland …«
    »Wir wollen es dabei belassen. Aber Ihr Rat war falsch.«
    »Erlauben Sie mal, Frau Reitzak. Niemand konnte wissen …«
    »Genau das hätten Sie mir vor vier Jahren sagen sollen, dann lägen meine Goldstücke noch immer in der Kiste.«
    »Wollen Sie mir etwa Vorwürfe machen, Frau Reitzak?«
    »Nein, Herr Direktor. Vielleicht gibt es keinen Weg zum Gold zurück. Aber eine Bitte habe ich an Sie.«
    »Wollen Sie ein Darlehen?«
    Sie lächelte und deutete auf das Sparbuch. »Bei dem Konto? Nein, ich brauche kein Darlehen. Aber in unserer Familie …« Sie zögerte einen Augenblick. »Einen Pflegesohn habe ich«, fuhr sie dann fort. Sie kramte in ihrer Tasche. »Hier ist sein Zeugnis und hier sein letztes Schreibheft.«
    Er überflog das Zeugnis und schlug das Heft auf. »Wie gedruckt schreibt der Junge«, lobte er.
    »Bruno Kurpek hat keine Lehrstelle. Ich möchte Sie bitten, ihn als Lehrling hier in der Sparkasse einzustellen.«
    Er lachte verärgert, nahm Heft und Zeugnis und klatschte beides auf den Tisch. »Wie stellen Sie sich das vor, liebe Frau? Ich habe bereits einen Lehrling angenommen. Dreizehn Jungen haben sich beworben. Nur beste Referenzen. Dreizehn, sage ich Ihnen, und …« Er brachte viele Gründe vor, die alle darauf hinausliefen: Nein, den Bruno Kurpek nicht. Er sagte nicht, was er dachte, nämlich, wo das denn wohl enden sollte, wenn jetzt schon die Bengel aus den Proletenfamilien eine Banklehre anstrebten.
    Frau Reitzak verließ das Zimmer des Direktors.
    »Das wäre ja noch schöner!«, rief er ihr nach.
    Sie hob an der Kasse ihr gesamtes Guthaben ab, achttausendeinhunderteinundzwanzig Mark und dreiundsechzig Pfennig.
    Sie fühlte sich erschöpft. In der Kaiserstraße traf sie ihre Nachbarin.
    »Was ist denn mit dir los, Mathilde?«, fragte Frau Borboschilski besorgt. »Du bist ja leichenblass.«
    Frau Reitzak antwortete zunächst nicht. Als sie später in Frau Borboschilskis Küche saß und die Nachbarin ein Kännchen Kaffee »vom Guten« aufgoss, da sagte sie: »Ne, Auguste, was habe ich für eine Angst ausgestanden und wie habe ich mich über den Kerl geärgert«, und sie fing an zu weinen.
    Frau Borboschilski hätte gern erfahren, was es mit dem »Kerl« und dem Ärger auf sich hatte. Noch niemals hatte sie die selbstsichere Mathilde Reitzak so außer sich gesehen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sich Frau Reitzak beruhigt hatte.
    »Ich danke dir, Auguste«, sagte sie. »Es geht doch nichts über ein gutes

Weitere Kostenlose Bücher