Zeitbombe
Indianer in Südamerika früher benutzt haben. Ich habe als Kind viel darüber gelesen, den Namen allerdings lange vergessen. Wissen Sie vielleicht, was ich meine?«
»Ja, ich weiß genau, was Sie meinen. Sie denken an Curare, so …«
»Curare, genau«, bestätigte der Oberkommissar laut. »Genau das meine ich.«
»Curare wird übrigens noch heute benutzt, und das nicht nur von den Indianern Südamerikas; aber das ist eine andere Geschichte. Sie haben übrigens ganz recht mit Ihrer Annahme, dass es Übereinstimmungen in der Wirkung der beiden Stoffe gibt. Etwas laienhaft ausgedrückt ist Curare der Urahn oder der Vorvorvorläufer von Rocuronium.«
»Aber ein Zeug mit solch einer brutalen Wirkung kann man doch bestimmt nicht einfach mal so in der Apotheke kaufen, Doc?«
»Nein, das nun gerade nicht. Alle Stoffe dieser Klasse werden immer unter Verschluss gehalten und nur an Berechtigte weitergegeben oder verkauft. Allerdings«, setzte der Rechtsmediziner mit gerunzelter Stirn hinzu, »soll das nicht heißen, dass es für Nichtberechtigte absolut unmöglich ist, sich damit zu versorgen. Wir leben nun mal in einer ziemlich offenen Welt, auch, was diese Dinge angeht; wobei ich damit nicht sagen will, dass man es einfach mal so eben im Internet bestellen kann. Es ist wirklich schwer, an so einen Wirkstoff heranzukommen.«
»Aber es wäre ein Ansatz, sich auf die Suche nach einer Fehlmenge von diesem Rocuronium zu machen?«
»Das auf jeden Fall.«
»Also in Krankenhäusern?«
Franz dachte eine Weile nach.
»Schauen Sie überall nach in der Kette, vom Hersteller über die Großhändler bis zum Endverbraucher, also den Krankenhäusern.«
»Es bleibt allerdings noch die Frage zu klären«, mischte Lenz sich in das Gespräch der beiden ein, »wie wir nach Ihren aktuellen Erkenntnissen mit dem Tod von Norbert Schneider umgehen sollen, Dr. Franz.«
»Dem anderen Polizisten, der tot im Tunnel lag?«
Der Hauptkommissar nickte.
»Nach meiner Einschätzung müssen Sie den Leichnam exhumieren lassen. Wenn er nicht zu allem Unglück eingeäschert wurde«, fügte der Mediziner besorgt hinzu.
Lenz sah seinen Kollegen Thilo Hain an, als müsse der wissen, wie die Beerdigung von Wasserpfeifen-Nobby über die Bühne gegangen war. Der Oberkommissar hob die Schultern.
»Keine Ahnung, aber es sollte durch einen Anruf bei RW leicht herauszufinden sein.«
»Dann mach das am besten gleich.«
Hain griff in die Innentasche seines Sakkos und verließ mit dem Telefon in der Hand den kleinen Raum.
»Ich schäme mich, Herr Kommissar«, ließ Dr. Franz den Polizisten kleinlaut wissen. »Ich schäme mich natürlich auch, weil ich Sie heute Morgen so schrecklich überheblich angefahren habe und Ihre Einwände ohne wirkliche Prüfung ins Reich der Fantasie verwiesen habe.«
»Das hätten wir jetzt abschließend geklärt, Doc. Was mich viel mehr interessieren würde, ist die Frage, ob Sie nach den zwei Wochen, die mittlerweile vergangen sind, dieses Rocuronium auch bei Schneider noch nachweisen könnten?«
Der Arzt nickte.
»Das ist ohne Probleme möglich, ja.«
»Dann wollen wir hoffen, dass er nicht durchs Feuer gegangen ist.«
»Ja, das wollen wir hoffen. Und ich will mich noch einmal in aller Form bei Ihnen dafür bedanken, Herr Lenz, dass Sie heute Morgen auf einer sehr gewissenhaften Obduktion bestanden haben. Natürlich hätte ich mir auch ohne Ihre Aufforderung die angemessene Mühe gegeben, aber in diesem Fall hätte ich die Verabreichung des Rocuroniums vermutlich übersehen. Der Nachweis bedingt ein paar spezielle Untersuchungen, die nicht zum Standardrepertoire gehören. Also …«
Bevor er weitersprechen konnte, betrat Hain mit zufriedenem Gesicht das Büro.
»Wasserpfeifen-Nobby ist auf dem Hauptfriedhof in Kassel beigesetzt worden; in einem Sarg. Eine Exhumierung sollte also kein Problem darstellen.«
»Gut«, erwiderte Lenz. »Darum kümmern wir uns, wenn wir in Kassel sind.«
Er wandte sich zu Dr. Franz.
»Wir danken Ihnen, Doc – auch für Ihre Offenheit.«
Damit griff er nach der Hand des Arztes, schüttelte sie zum Abschied und verließ mit seinem Kollegen im Schlepptau das Institut.
»Wenn Wasserpfeifen-Nobby ebenfalls mit diesem Zeug außer Gefecht gesetzt worden ist, bevor er auf dem Bahngleis zum Liegen kam, haben wir eine Menge Scheiße am Hacken«, fasste Lenz die Gedanken zusammen, die ihm seit ihrer Abfahrt aus Göttingen durch den Kopf gegangen waren. »Dann haben wir es nämlich nicht nur
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