Zeitbombe
hat ihn mal auf dem OP-Tisch gehabt, der sein Handwerk nicht zu einhundert Prozent im Griff hatte. Die Operationen, die danach folgten, waren eher dazu da, den Mist, der vorher entstanden war, auszubügeln.«
»Könnte es sein, dass seine Wirbelsäule nicht mehr groß belastbar war?«
Sie kicherte auf.
»Nicht mehr groß belastbar ist eine sehr schmeichelnde Umschreibung für diese Ruine, die er da mit sich rumgeschleppt hat. Viel war damit nämlich wirklich nicht mehr los.«
»Es ist also möglich, dass er wegen dieses Schadens weder viel heben noch viel tragen konnte?«
Wieder musste sie lachen.
»Der konnte vermutlich gar nichts heben oder tragen, Herr Lenz. Seine Wirbelsäule war dazu einfach nicht mehr in der Lage.«
Ein hingenuscheltes »Danke, Frau Weber« war das Letzte, was die verdutzte Rechtsmedizinerin von ihm zu hören bekam, denn Sekundenbruchteile später hatte er das Gespräch beendet.
*
Lenz hatte nach dem Telefonat kurz bei Maria vorbeigeschaut und ihr in knappen Worten erklärt, dass er einen vermutlich unangenehmen Gang vor sich hatte und in ein paar Stunden wieder bei ihr auftauchen würde.
»Du siehst mitgenommen aus«, merkte sie besorgt an.
»Ich weiß«, hatte er geantwortet. »So fühle ich mich auch.«
Dann war er zu seinem Wagen gegangen und hatte sich auf den Weg gemacht.
Die Innenstadt wirkte noch immer wie ausgestorben; wahrscheinlich, dachte der Polizist, sieht es an den Badeseen und in den Freibädern ganz anders aus. Er regelte die Klimaanlage auf die höchste Stufe, drehte die Musik ein wenig lauter und ließ seinen Kleinwagen mit angemessener Geschwindigkeit von Kreuzung zu Kreuzung rollen. Kurze Zeit später hatte er den Stadtteil Niederzwehren erreicht, bog von der Hauptstraße ab, fuhr noch ein paar Augenblicke durch ein ruhiges Wohngebiet und hatte schließlich sein Ziel erreicht.
»Hallo, Paul«, wurde er von Irma Brandt freudig empfangen und ins Haus gebeten.
»Ich will mich kurz mit Ludger unterhalten«, erwiderte er freundlich. »Es geht um eine alte Sache, die lange zurückliegt«, setzte er hinzu, nachdem er ihren irritierten Blick wahrgenommen hatte.
»Na«, ließ sie ihn wissen, »das trifft sich aber gar nicht gut. Ludger liegt nämlich seit gestern Abend im Bett. Er hatte wohl einen leichten Hörsturz, wie der Arzt meint.«
»Aha«, wunderte sich Lenz. »Ich habe ihn gestern noch gesehen, da ging es ihm wie immer.«
»Ja, das mag sein. Gestern Abend allerdings hat er auf einmal auf dem rechten Ohr nicht mehr richtig hören können, deshalb sind wir zur Arztnotrufzentrale gefahren. Zuerst dachten wir an einen Schlaganfall, weil ihm auch schwindelig war und er sich insgesamt ziemlich mies gefühlt hat, aber das hat der Notarzt relativ schnell ausschließen können. Zum Glück«, fügte sie schnell hinzu.
»Zum Glück, ja«, bestätigte der Kommissar.
»Mein guter Ludger hat ja schon seit ein paar Jahren einen viel zu hohen Blutdruck, ist aber, was die Therapie angeht, immer ein bisschen nachlässig gewesen. Auch deshalb waren wir gestern Abend ziemlich in Aufruhr.«
»Ich weiß leider viel zu wenig über einen Hörsturz, Irma«, gestand Lenz ein. »Wie behandelt man denn so was?«
»Er muss ein paar Tage im Bett liegen und darf sich nicht anstrengen oder aufregen. Sein Arzt, der heute Morgen hier war, sagte, dass ein Hörsturz oftmals von Stress ausgelöst wird. Nicht immer, aber eben oft. Das wäre in seinem Fall jetzt nicht so ganz nachvollziehbar, weil er ja gerade erst pensioniert worden ist, aber Dr. Wilms hat mir, nachdem er Ludger eine Spritze gegeben hatte, unter vier Augen erklärt, dass es genau damit zu tun haben kann. Ludgers Stress könnte sein, dass er nicht mehr jeden Tag ins Büro muss, dass er nicht mehr jeden Tag im Präsidium Entscheidungen treffen muss. Der Arzt sagt, dass er das schon öfter genau so erlebt hat.«
»Na ja«, gab Lenz sich ein wenig skeptisch, »so sehr wird er den Dienst schon nicht vermissen, oder?«
»Das ist es ja gerade, sagt Dr. Wilms. Er vermisst den Dienst, aber es ist ihm gar nicht bewusst. Er hat mir geraten, mit ihm zu einem Psychologen zu gehen.«
»Hmm«, machte der Polizist.
Irma Brandt wollte das Gespräch gern weiterführen, wurde jedoch von der polternden Stimme ihres Mannes aus dem Obergeschoss gestoppt.
»Irma?«, schallte es durch das Haus. »Irma, ist da jemand bei dir?«
Sie zog resignierend die Schultern hoch.
»Er hat zwar einen Hörsturz, hört aber trotzdem wie ein
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