Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
vor. »Sie haben das mit den Haager Konventionen offenbar gründlich missverstanden, Herr Leutnant«, flüsterte er.
Wilhelm straffte seine Haltung. »Das glaube ich nicht«, erwiderte er.
»Das war keine Frage, Sie wurden nicht um Antwort gebeten!«, mischte sich der Vorsitzende ein. »Sie antworten nur, wenn der General Sie etwas fragt.« Der General nickte zustimmend und fuhr fort: »Das Recht auf Widerstand, das die Haager Kriegsrechtskonvention aus dem Jahr 1907 jedem Volk bei einem Angriff zuspricht und auf das Sie rekurrieren, bezieht sich keineswegs auf die Zivilbevölkerung. Nur Soldaten stehen unter dem Schutz der Konvention. Jeder andere, der eine Waffe zur Hand nimmt, ist ein Partisan und als solcher zu behandeln.«
»Das ist eine Auslegung, die …«
»Ihren Standpunkt kennen wir, er ist hier schriftlich niedergelegt, Sie brauchen ihn nicht zu wiederholen. Das hinterhältige Attackieren von Männern, die den Kriegsrock Ihres Vaterlandes tragen, ist das ehrloseste Verbrechen, das man sich vorstellen kann und steht keinesfalls unter dem Schutz irgendeiner Konvention! Hier muss mit aller Härte vorgegangen werden. Und wenn Sie, Herr Leutnant, der Sie ein Vorbild für den einfachen Mann in der Truppe sein sollten, hierzu eine abweichende Meinung vertreten, dann haben Sie nichts anders verdient als jeder dieser Partisanen.«
Er lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Vorsitzende blickte irritiert auf seine Hände, die in schwarzen Lederhandschuhen steckten. Die Worte des Generals widersprachen dem, was er noch vor wenigen Minuten über den Angeklagten geäußert hatte, sie kamen einer Verurteilung gleich. Er räusperte sich: »Das Gericht vertagt sich. – Abführen!«
Während sich das Scheunentor hinter Wilhelm schloss, erhoben sich die Männer hinter dem Schreibtisch und versuchten, den General zu verstehen, der wisperte: »Der Mann muss begreifen, dass es ernst ist. Er muss sich darüber klar sein, dass wir ihn an die Wand stellen könnten, jetzt sofort und gleich hier. Aber es nützt uns mehr, wenn er seine Beschwerde zurückzieht und einsieht, dass er die Dinge nicht richtig beurteilt hat. Wir wollen keine Märtyrer züchten. Außerdem hat der Kaiser in junge Männer wie diesen viel investiert, noch ist dieser Krieg nicht gewonnen, wir brauchen jeden jungen Helden, vor allem die intelligenten. Also«, er wandte sich an den Vorsitzenden, »teilen Sie ihm mit, dass wir seinen schriftlichten Widerruf erwarten. Ich will ihn morgen auf dem Tisch haben.«
*
Es war sieben Uhr, als sich das Scheunentor öffnete und ein Hauch kühle Abendluft in den stickigen Raum drang. Der wachhabende Offizier trat zwei Schritte hinein und las die Namen vor. Sechs waren es heute. »Außerdem von Schwemer«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Alle raustreten!«
Wilhelm trat als Letzter durch das Tor auf den Hof und klopfte sich das Stroh von seiner Uniformjacke. »Was sind Sie für ein Idiot!«, zischte ihm der Offizier zu. »Sie hatten Ihre Chance, und Sie haben Sie nicht genutzt! Wir erschießen nicht gern Offiziere, höchst ungern sogar.«
Wilhelm sah ihn an. »Aber die hier?«, er deutete auf die sechs Soldaten, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten, »die erschießen Sie gern?«
»Deserteure! Was gibt es da für eine andere Wahl?«
Wilhelm nickte. »Ja, was gibt es da für eine Wahl …«, wiederholte er und reihte sich ein.
Wilhelm war froh, dass er den Stein aus seiner Hosentasche genommen hatte, bevor ihm die Hände auf den Rücken gebunden wurden. Während die sieben Verurteilten schweigend und von Soldaten bewacht einen schmalen Weg den Hügel hinaufgingen, presste er ihn in seiner rechten Hand, als wollte er ihn zerdrücken, und konzentrierte sich auf das Gesicht, dessen Konturen ihm immer wieder zu entgleiten drohten: Mal sah er Adèle mit kurzen Haaren, mal mit ihrer grauen Mütze, dann wieder mit den nach hinten geflochtenen, hüftlangen Zöpfen, die sie in den Jahren getragen hatten, als sie die Sommer von Lagarde zusammen verbrachten. Die Nähe zur französischen Grenze war ihm überdeutlich bewusst. Die Vorstellung, dass hier, nur wenige Meter entfernt, deutsche Soldaten ihre Gewehre auf ihn richten würden, erschien ihm wie ein schlechter Traum.
Je weiter sie in die Dämmerung hinein marschierten und je länger er den Stein in seiner Handfläche spürte, desto stärker wurde sein Gefühl, nicht wirklich zu der kleinen Kolonne zu gehören. Seine Sinne
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