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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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herauf. Dem Grollen folgte ein scharfes Pfeifen von mehreren Sekunden Dauer, darauf ein ohrenbetäubender Knall. Etwas musste unweit des Hauses eingeschlagen sein. Sie wandte den Blick zum Fenster und sah eine meterhohe Erdfontäne aus dem Weinberg spritzen. Helène ließ sich zurücksinken und zog die Bettdecke über den Kopf. Jetzt wusste sie es wirklich: Es war Krieg.
    Die Kanonen der Deutschen, die während der Nacht am anderen Ufer des Rhein-Marne-Kanals in Stellung gebracht worden waren, begannen jetzt systematisch die Felder und Weinberge am Ortsrand, in denen sich die französische Infanterie versteckt hielt, zu beschießen. Die französische Artillerie feuerte zurück, hin und wieder zeugten Explosionen davon, dass eine deutsche Stellung getroffen worden war. Die meisten Granaten flogen jedoch zu kurz und landeten im Wasser.
    Der Vormittag gehörte der Artillerie. Danach zeugten erst vereinzelte Gewehrschüsse und dann unaufhörliches Geknatter von Maschinengewehren davon, dass im Ort gekämpft wurde. Helène hielt es nicht länger in ihrem Zimmer. Als sie den Treppenabsatz erreichte, sah sie, dass es in der Eingangshalle und im Speisesaal von Menschen wimmelte, Männer lagen stöhnend und blutendam Boden, Sanitäter trugen auf Bahren immer neue Verwundete ins Haus.
    Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte, als sie einen Offizier bemerkte, der ihr Handzeichen gab. Durch den Lärm hindurch hörte sie ihn rufen: »Madame, der Brunnen ist getroffen! Wir brauchen Wasser für die Verletzten. Haben Sie einen zweiten?« Sie nickte und lief zur Hintertür. Doch der Offizier hielt sie zurück. »Nicht hinausgehen! Die Deutschen sind bereits auf dem Gelände! Sagen Sie mir nur, wo der Brunnen ist.« Sie deutete auf die Tür. »Hinter den Stallungen.« Gerade als der Offizier die Tür öffnen wollte, setzte ein Geschützlärm ein, der alles Vorherige übertraf. Er hielt inne und lauschte. »Der Kirchturm!«, sagte er. »Unsere Maschinengewehre – damit haben sie nicht gerechnet! Gehen Sie besser in den Keller, Madame, ich danke Ihnen.« Der Offizier machte einen Schritt auf die Küchentür zu, als diese mit einem Knall aufflog und ein Mann rückwärts hereingeflogen kam. Er war bereits tot, als er auf den Küchenfliesen aufschlug. Er landete direkt zu Helènes Füßen.
    Sie ging nicht in den Keller, sondern stieg die Treppe hinauf, langsam und ohne sich umzusehen. Die Schreie, die Schüsse, der Geschützdonner – alles wurde leiser, Helène hatte das Gefühl, als schlössen sich ihre Ohren, als tauche ihr Kopf unter Wasser. Die Geräusche erreichten sie nur noch von weit her. Sie öffnete die Tür zum Balkon und trat hinaus. Eine Salve von Lichtblitzen ließ sie zum Kirchturm blicken: Von seiner Spitze zielten Soldaten mit Maschinengewehren auf deutsche Reiter, die mit erhobenen Fahnen und Säbeln die Hauptstraße entlanggaloppierten, eine gewaltige Staubwolke aufwirbelnd. Einer nach dem anderen stürzte im hohen Bogen zu Boden, Pferde brachen zusammen, begruben Reiter unter ihren zuckenden Leibern, blutüberströmte Männer taumelten zwischen toten Tieren und Menschen herum. Immer neue Reiter jagten heran, sprangen von ihren Pferden und stürmten mit Lanzen und Säbeln die Barrikaden, hinter denen die französischen Gewehrschützen lagen und nicht schnell genug nachladen konnten. Ihr Blut färbte die Gemüsegärten vor den Häusern rot.
    Dann war es zu Ende. Um 18 Uhr kehrte ebenso schlagartig Ruhe ein, wie der Spuk am Morgen begonnen hatte. Helène sah von ihrem Balkon aus, wie Tote und Verwundete aus dem Haus getragen und auf Pferdefuhrwerke gelegt wurden. Langsam aus ihrem Alptraum erwachend, stieg sie die Treppen hinunter, durchschritt die leere Halle ihres Hauses und trat ins Freie. Sie ging die Auffahrt hinunter und erreichte die Straße. Einer nach dem anderen traten weitere Bewohner aus ihren Häusern und starrten in ihre Vorgärten, in denen sich die Leiber toter Soldaten stapelten. Die meisten Gebäude waren beschädigt, Fenster zersplittert, Türen zerbrochen, Dächer durchschlagen.
    Am Ende der Straße stand eine feine Rauchfahne unbewegt in der Luft. Helène stieg über Pferde und Soldaten hinweg, um zu ihrer Ursache zu gelangen. Ihr Weg führte sie zu Rogérs Hütte, die in Trümmern lag.
    Allmählich drang das Geläut der Kirchenglocken zu ihr durch.

6 . Meaux
Der Wisperer
    Eine einsam gelegene Scheune nahe der belgischen Grenzstadt Chimay diente als Militärgefängnis. Außer dem

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