Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
jede Minute, die sie zusammen sein durften. Die Zeit schien sie für eine Weile vergessen zu haben.
Und dann stand von Drewitz vor der Tür. Diesmal war er nicht allein. Ohne darauf zu warten, dass er hereingebeten wurde, stürmte er an Helène vorbei ins Haus. »Alle Zimmer!«, befahl er seinen Männern, »alles durchsuchen!« Dann, zu Helène gewandt: »Es heißt, Sie sind nicht allein im Haus, verehrte Madame! Man hat Stimmen gehört, Gespräche. Gespräche auf Französisch …«
»Nun ja – ich bin Französin.«
»Aber ich nehme nicht an, dass Sie Selbstgespräche führen. Wer war bei Ihnen?«
»Sehen Sie nach, Sie werden niemanden finden.«
Äußerlich wirkte Helène ruhig und gefasst, in ihrem Inneren jedoch verging sie fast vor Angst. Wilhelm und Adèle waren kurz vor von Drewitz’ Ankunft zu Printemps’ Haus hinübergegangen – der Ort, an dem Adèle immer noch hoffte, Nachricht von ihrem Vater zu finden. Von Drewitz beobachtete Helène, während ausallen Räumen das Getrampel und die Stimmen seiner Männer zu hören waren. »Sie zittern ja«, sagte er, »ist Ihnen kalt?«
Helène antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. »Möchten Sie lieber mit mir kommen?«, fragte er lauernd. »Vielleicht ist die Einsamkeit nicht gut für Sie. Sie sind doch ganz allein, oder?«
Die Männer traten einer nach dem anderen vor ihn und meldeten: Niemand da. Dann verließen sie das Haus und gingen zu ihren Wagen.
»Ja, so viel Einsamkeit ist auch für die schönste Frau ungesund«, sagte er. »Also, darf ich Sie einladen, mit mir zu kommen?«
»Ich glaube nicht, dass meine Mutter das möchte«, sagte eine Stimme hinter ihm. Von Drewitz wirbelte herum und starrte Wilhelm an.
»Sie?«, rief er ungläubig. »Ich dachte, Sie wären …«
»War ich auch«, sagte Wilhelm. Er trat dicht vor von Drewitz, den er um Haupteslänge überragte. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie jetzt gingen. Noch besser, wenn Sie dieses Haus nie wieder betreten.«
Von Drewitz’ Kopf wurde hochrot, er nestelte an seinem Gürtel unter der Jacke. Wilhelm packte ihn am Arm. »Die brauchen Sie nicht, zumindest nicht hier!« Mit einem Ruck zog er von Drewitz’ Pistole aus dem Halfter und legte sie hinter sich auf den Tisch. »Und wenn Sie sich selbst einen Gefallen tun wollen: Erzählen Sie nichts von Ihrem Besuch hier. Was würde das für einen Eindruck machen. Und jetzt raus!«
Langsam bewegte sich von Drewitz rückwärts zur Tür und starrte Wilhelm an wie ein Gespenst, dann drehte er sich um und stürmte aus dem Haus.
Helène sah Wilhelm an. »Danke. Aber das wird er nicht auf sich sitzen lassen. Er wird wiederkommen.«
»Er verehrt Sie, Sie brauchen ihn nicht zu fürchten.«
»Verehren!«, wiederholte sie verächtlich. »Er will … weiß der Himmel, was er will. Aber du weißt, dass du nun nicht mehr bleiben kannst. Ich bin sicher, er ist darüber informiert, dass sie dich suchen.«
Wilhelm nickte. »Ich werde versuchen, nach Berlin zu kommen«, sagte er. »Ich muss dort meine Sache zu Ende bringen. Ich kann nicht den Rest meines Lebens mit der Furcht verbringen, vom nächstbesten deutschen Unteroffizier verhaftet zu werden. Besser ein ordentliches Gerichtsverfahren als ständig auf der Flucht.«
Helène sah ihn verständnislos an. »Wie willst du nach Berlin kommen?«, fragte sie. »Es ist Krieg!«
»Von Straßburg fahren reguläre Züge. Es ist Krieg, ja, aber an der nächsten Straßenecke geht alles seinen gewohnten Gang. Straßburg ist nicht weit von hier, ein Tagesritt, und ich bin da.«
Helène nickte langsam. »Wann wirst du aufbrechen?«
»Morgen«, antwortete Wilhelm. »Je länger ich hier bleibe, desto mehr gefährde ich Sie und Adèle.«
*
Der Blick aus dem kleinen, verstaubten Küchenfenster war genau so, wie Wilhelm ihn in Erinnerung gehabt hatte. Zwei der Scheiben hatten Sprünge, der Küchentisch wackelte ein wenig mehr als früher, ansonsten war alles unverändert. Adèle und Wilhelm standen vor dem Tisch, sie hatten Traubensaft aus dem Keller geholt, so wie sie es früher immer getan hatten. »Ich habe mich jeden Tag gefragt, wo du sein könntest«, sagte Adèle, »jeden Tag, jede Stunde. Ob du lebst, was du denkst, was du fühlst. Ich hatte so schreckliche Angst!«
Sie wandte sich zu ihm und legte ihre Stirn an seine Brust. »Und ab morgen wird all das wieder losgehen.«
Wilhelm strich ihr übers Haar. »Morgen – wann ist morgen? Vielleicht gibt es gar kein Morgen, vielleicht ist das alles nur
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