Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
der Kaiser gesagt. Aber manchmal dauern die Dinge etwas länger.«
»Warum?«
»Weil alle geglaubt haben, es würde ganz schnell gehen. Und dann passiert es manchmal, dass die Dinge besonders lange dauern.«
»Jeder Tritt ein Brit’, jeder Stoß ein Franzos’ – das haben wir heute in der Schule gesungen. Hast du tote Franzosen gesehen?«
Robert nickte. »Viele, und Deutsche. Und Engländer. Viel mehr, als man sonst Menschen auf der Straße sieht, selbst bei dichtestem Verkehr. Alle haben Waffen, die vorher keiner ausprobiert hat. Alles ist neu. Kanonen, Flugzeuge, Tanks – die Soldaten können sich nicht dagegen wehren.«
»Auch die Husaren nicht?«
Diesmal stieß Karl seinen Bruder an, dessen Fragen ihm peinlich zu sein schienen.
»Lass nur«, sagte Robert zu ihm, »das sind kluge Fragen. Viel mehr Leute sollten solche Fragen stellen.«
*
Es blieb nicht bei dem einen Besuch. Elisabeth gewöhnte sich an, Robert vom Lazarett abzuholen, wenn sie ihn zum Essen eingeladen hatte. Das Lazarett würde noch für einige Wochen sein Zuhause bleibe, so lange, bis seine Prothese fertig war. Gehübungen und Gymnastik gehörten zu seinem täglichen Genesungsprogramm. »Für Offiziere und adlige Verwundete wird vorbildlich gesorgt«, sagte er, als sie zur Straßenbahn gingen. Er stützte sich nur noch auf eine Krücke, Elisabeth hatte ihn auf der anderen Seite untergehakt. »Die Übrigen müssen sehen, wie sie sich selbst helfen …«
Die Krankenhäuser und Heimatlazarette waren auf so viele Verwundete nicht vorbereitet, täglich wuchs die Zahl bettelnder Kriegskrüppel am Straßenrand. Die Zeitungen empörten sich über die Verschandelung des Straßenbildes und ermahnten die Polizei, dagegen vorzugehen. Aber selbst die Berliner Polizisten wagten es nicht, die Männer zu vertreiben.
»Nicht nur, dass die Offiziere zehnmal so viel Sold erhalten wie die einfachen Soldaten, auch die Kriegswitwen-Unterstützung ist zehnmal so hoch«, erklärte er Elisabeth. »Ich schäme mich dafür. Ich war zwar nicht lange an der Front dabei, aber wie viele tapfere Männer ich in der kurzen Zeit habe sterben sehen, während ihre Offiziere sich vornehm im Hintergrund halten – das treibt mir die Schamesröte ins Gesicht!«
Elisabeth sah ihn verwundert an. So aufgebracht hatte sie den Freund ihres Bruders noch nicht erlebt. »Solche Dinge solltest du besser nicht laut auf der Straße sagen«, erwiderte sie. »So etwas ist strengstens verboten. Gute Stimmung ist erwünscht! Der Kaiser hat gerade erst Jammerbriefe untersagt.«
»Jammerbriefe?«
»Er hat Soldatenfrauen verboten, in den Briefen an ihre Männer über die Zustände in der Heimat zu klagen. Zum Beispiel darüber, dass die Lebensmittel rationiert worden sind, dass es keine Medikamente für Zivilisten mehr gibt, dass Frauen in Rüstungsfabriken arbeiten müssen, damit sie ihre Kinder ernähren können, weil der Wehrsold ihrer Männer nicht reicht.«
Robert schüttelte ungläubig den Kopf, dann sagte er: »Und an der Front werden Merkblätter an die Soldaten verteilt: Fährst du in den Urlaub, so lass den Dreck und die traurigen Gedanken im Graben, bringe eine frische Brise Frontlust und den Humor der vorderen Linien in die Heimat. Das steht da – wörtlich! Wir sollen gute Laune verbreiten. So wie der da zum Beispiel.« Er deutete auf einen Invaliden mit einem Kopfverband, der zitternd an einem Mauervorsprung lehnte. »Ein Schüttler«, erklärte Robert, »so werden die genannt, deren Nerven versagt haben. Sie können nicht aufhören zu zittern. An der Front werden sie zusätzlich schikaniert, weil man sie für Simulanten hält …« Er ging zu dem Mann und legte einige Geldmünzen in die Pappschale vor ihm. Zitternd streckte er eine Hand aus, Robert ergriff sie. Der Mann war nicht älter als er selbst.
Schweigend warteten sie an der Straßenbahnstation. Als sie zwei Plätze am Ende des Waggons gefunden hatten, sagte Elisabeth leise zu Robert: »Auch Frauen werden schikaniert.«
Robert sah sie verblüfft an. Elisabeth blickte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass sie sich außer Hörweite der übrigen Fahrgäste befanden, dann beugte sie sich dicht zu Robert und flüsterte: »Das Kriegsministerium hat einen Erlass herausgegeben, der Soldatenfrauen zur ehelichen Treue verpflichtet. Ehebrecherinnen bekommen keine Unterstützung, und wer sich mit Kriegsgefangenen einlässt, wird namentlich in der Zeitung bekannt gemacht und vor Gericht gestellt. Die Ersten sind schon
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