Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sich dann jedoch die Bemerkung. Nach einer weiteren Verbeugung wandte er sich um und verließ das Zimmer.
*
Das Haus war still, als Wilhelm zu seinem Zimmer ging, das Personal hatte bereits fast alles weggeräumt, was darauf hindeuten konnte, dass hier noch vor kurzem ein rauschendes Fest gefeiert worden war. Als Wilhelm sein Zimmer betrat, fiel sein Blick auf das kleine Päckchen auf dem Tisch, das seine Schwester ihm zum Geburtstag geschenkt hatte – er hatte noch keine Zeit gefunden, es auszuwickeln. Rasch ergriff er es, entfernte das Papier und hielt ein Schmuckkästchen in der Hand, wie es für Ringe verwendet wird. Es enthielt einen grauen, ovalen Stein, unter dem ein gefalteter Zettel lag mit der Aufschrift: »Verlier ihn nicht wieder. Er erinnert dich daran, was Glück bedeutet.«
Wilhelm setzte sich auf die Bettkante. Er erkannte den Stein sofort. Er stammte aus dem Weinberg der Familie im Elsass, wohin man seit zwei Jahrzehnten jedes Jahr in die Sommerfrische gefahren war. Hier lebten die Großeltern mütterlicherseits, hier hatte Wilhelm einige der unbeschwertesten Jahre seines Lebens verbracht. Der Stein war sein Talisman gewesen, den er immer bei sich trug. Doch eines Tages vor nicht langer Zeit war er weg, er hatte ihn verloren, verlegt, irgendwo vergessen – er wusste es nicht genau. Elisabeth hatte ihn offenbar gefunden und mit der Rückgabe bis zu Wilhelms Geburtstag gewartet. Er hielt den unscheinbaren Stein dicht vor seine Augen, der Geruch reifen Weins schien ihm in die Nase zu steigen. Er schloss die Augen und sah ihr Gesicht vor sich: Adèle, die Tochter des Weinbauern. Adèle Printemps, das Mädchen, mit dem er als Junge unzählige Nachmittage in der Sonne des französischen Spätsommers verbracht hatte, in Höhlen und auf Bäume geklettert war, die ihm die Labyrinthe der Weinkeller gezeigt hatte, in deren Zuhause – eine kleine Hütte am Ende des Anwesens – sie den frisch gepressten Traubensaft gekostet hatten, von wo seine Mutter ihn oft genug zum Abendessen abgeholt hatte, nicht ohne auf dem Heimweg darauf hinzuweisen, dass es doch auch genügend französische Jungen gab, mit denen er die Ferien verbringen könne, es müsse doch nicht immer dieses Mädchen sein. Er hatte darauf nie geantwortet.
Wilhelm öffnete die Augen, roch noch einmal an dem Stein und legte ihn dann in die Schachtel zurück.
2 . Togo
Es war dann doch nicht die ›Lucie Wörmann‹, sondern ein neu in Dienst gestelltes Schiff der Hamburg-Afrika-Linie. »Auch gut«, sagte der Freiherr, als er, Wilhelm und Hans-Georg von Doering an einem kalten, strahlend blauen Tag die Gangway emporstiegen, in gebührendem Abstand hinter ihnen Aiauschi mit dem Gepäck. »Vor der Küste Togos zeigt sich, was ein Schiff taugt. Eine Brandung wie dort wirst du dein Lebtag nicht wieder sehen.« Er drehte sich zu Aiauschi um und rief: »Kalema!« Aiauschi sah ihn an und nickte ernst. »So nennen die Eingeborenen diese Brandung«, erklärte er. »Wirklich höllisch! Aber da müssen wir durch – seit im letzten Jahr die Landungsbrücke zu Bruch ging.«
Während der Überfahrt nahmen die drei Männer ihre Mahlzeiten am Tisch des Kapitäns ein. »Dies ist meine hundertste Togo-Fahrt«, sagte der, »machen Sie sich keine Sorgen, meine Herren, bisher sind meine Passagiere noch immer heil an Land gekommen. Die neuen Landungsboote, die Sie an den Strand bringen, sind eine wirkliche Verbesserung. Die Chancen, dass Sie trockenen Fußes das Ufer erreichen, stehen mittlerweile eins zu zehn – das ist eine bedeutende Steigerung!« Die Männer am Tisch lachten.
»Was ist mit der Landungsbrücke geschehen?«, fragte Wilhelm seinen Vater, als sie abends im Offizierskasino saßen.
»Ein technisches Meisterwerk, das war sie, die Kaiser-Wilhelm-Brücke!«, antwortete der. »350 Meter weit führte sie ins Wasser hinaus, sechs Meter breit mit Eisenbahnschienen drauf. Da konnte direkt vom Schiff in die Waggons umgeladen werden. Aber gegen einen Orkan wie den im letzten Winter ist kein Kraut gewachsen. Sie wurde in wenigen Minuten zerschmettert, die Eingeborenen sagen, solche Wellenberge habe es an ihrer Küste noch nie gegeben. Jetzt müssen wir wieder wie vor zwanzig Jahren in die Brandungsboote umsteigen und uns ans Ufer rudern lassen. Aber keine Sorge: Sobald es flach genug ist, werden wirvon Trägern an den Strand gebracht, deine Hosenbeine werden nicht nass.«
»Unangenehm wird dann allerdings noch mal die Lagune«, ergänzte Gouverneur von
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