Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Das ist ein ziemlich kriegerischer und blutrünstiger Stamm. Sie haben nicht nur einen Fetisch, sie haben eine ganze Schädelsammlung: Ihr Schädelhaus ist bekannt und berüchtigt in ganz Westafrika, es verleiht ihnen Respekt und Macht. Entsprechend groß ist ihre Sorge, dass die Kraft der Schädel sich irgendwann gegen sie selbst wenden könnte. Unser Plan ist: einige der heiligen Schädel in unseren Besitz zu bringen und sie bei Nacht von einem Reiter auf ihrem Weg auszulegen, wenn sie sich unseren Bahngleisen nähern.«
Er unterbrach sich und blickte Doering an. »Es gibt nichts, was sie mehr in Panik versetzen könnte«, sagte der, »wir sind sicher, dass sie Hals über Kopf Reißaus nehmen und nie wieder auf unser Territorium zurückkehren werden.«
»Und der Reiter soll ich sein?«
Die beiden Männer nickten.
»Und wie soll ich an die Schädel herankommen?«, fragte Wilhelm.
»Gar nicht«, entgegnete von Doering und grinste. »Wir kennen jemanden, der sie täuschend echt imitieren kann. Genauer gesagt, Aiauschi kennt jemanden.«
»Aiauschi?«
»Ja, er wird dich bei dieser Unternehmung begleiten.«
»Und er weiß bereits davon?«
Der Freiherr sah ihn lange an. »Er weiß viel mehr, als du glaubst. Vielleicht sogar mehr, als wir alle ahnen. Aber wir können uns hundertprozentig auf ihn verlassen, so viel steht fest.«
Wilhelm fuhr sich mit der Hand über den Kopf und lehnte sich zurück. »Wer weiß denn noch alles von diesem Mummenschanz?«, fragte er lächelnd.
Sein Vater sah ihn ernst an. »Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Das ist kein Kinderspiel. Aber ist es wichtig für uns – die Franzosen müssen endlich begreifen, dass sie uns nicht länger auf der Nase herumtanzen können!«
Aiauschi
Aiauschis Stellung in der kleinen Reisegesellschaft änderte sich abrupt, nachdem man vom Dampfer mit den Brandungsbooten ans Ufer gebracht worden war. Von nun an ging er nicht mehr hinterher, sondern voraus, er bestimmte das Geschehen: Er winkte vier kräftige Eingeborene als Träger für seine Herrschaften herbei, die sie auf ihre Schultern nahmen und an den Strand trugen – es war, wie der Freiherr vorausgesagt hatte: Keiner bekam nasse Hosenbeine, denn der Wind war mäßig, die Brandungswellen nicht höher als einen halben Meter.
Am Strand warteten weitere Träger mit Hängematten, die Aiauschi heranwinkte. Wilhelm beobachtete, wie sein Vater und der Gouverneur sich darin niederließen. Er zögerte kurz, tat es ihnen dann aber nach, nachdem Aiauschi ihm sagte, dass dies der übliche Weg sei, zur Stadt zu gelangen. Weitere Träger legten sich das Gepäck der Ankömmlinge auf den Kopf, so zog die kleine Karawane, angeführt von Aiauschi, in Lomé ein.
Die Hauptstadt Togos mit ihren 7 000 Einwohnern wirkte wie mit dem Lineal erbaut: Schnurgerade zog sich die ›Hamburger Straße‹ von der Strandpromenade, die ›Kaiserstaden‹ hieß, durch die Stadt, gesäumt von Geschäften und einstöckigen Bürogebäuden, schneeweiße Häuser mit gepflegten Vorgärten, darunter ein Bezirks- und ein Postamt, eine Schule und eine Polizeistation. In der Mitte der breiten, aus Lehm gestampften Straße waren Schienen einer Schmalspurbahn eingelassen, die direkt an den Geschäften vorbeiführte, um Waren anzuliefern. »Als die Landungsbrücke noch stand, fuhr die Bahn bis ans Schiff«, rief aus seiner Hängematte der Freiherr. »Das war natürlich praktisch, jetzt müssen wir uns mit dem Hundetrab begnügen«, sagte er und lachte, »so nennt man das, was wir hier gerade machen.« Er deutete auf die Eingeborenen, die seine Hängematte trugen.
Links und rechts zweigten Straßen mit vertrauten Namen ab: Lübecker Straße, Bremer Straße, Bismarckstraße, Marktstraße. Um zum Amtssitz des Gouverneurs zu gelangen, bog der kleine Tross in die Wilhelmstraße ab, wo die Villa schattig in einem kleinen Palmenwäldchen verborgen lag: ein zweistöckiger, weißer Bau mit Säulen, Erkern und Sprossenfenstern.
Obwohl in der Mittagshitze die Straßen normalerweise wie ausgestorben waren, hatten sich viele dunkelhäutige Neugierige eingefunden: Die Nachricht, dass der Gouverneur nach längerer Abwesenheit zurückgekehrt war, hatte sich herumgesprochen. Es blieb nicht beim Betrachten aus sicherer Entfernung: Einige Mutige näherten sich, beugten sich über die Hängematten und lachten den Weißen freundlich ins Gesicht. Vor allem Wilhelm erregte ihr Interesse. Mehrere junge Männer und Frauen traten heran, einer berührte ihn mit
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