Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Land.«
*
Von ihrem Rastplatz aus sahen sie in der Ferne Lomé unter sich liegen, das vom aufgewirbelten Sand wie mit einem Schleier bedeckt war. »Harmattan«, sagte Aiauschi, »so heißen die Staubwinde. Sie können so heftig werden, dass man daran erstickt.« Knapp unter ihnen entdeckte Wilhelm die Reste einer Siedlung: umgestürzte Hütten aus Stroh und Palmenblättern, kaum noch als Häuser zu erkennen. »Was ist geschehen?«, fragte er und deutete auf das ehemalige Dorf.
»Bato«, entgegnete Aiauschi. »Sie kommen aus dem Norden und machen Jagd auf die Ewe. Erst haben sie uns von dort vertrieben, jetzt kommen sie hierher. Von Zeit zu Zeit. Aber seit die Deutschen hier sind, ist es besser geworden. Sie schützen uns, denn sie brauchen uns. Wir bestellen ihre Felder. Bato machen so etwas nicht.«
Wilhelm sah ihn von der Seite an, konnte aber keine Bitterkeit in seiner Mine entdecken. Aiauschi sprach so sachlich darüber, als würde er erklären, wie man einem Pferd das Zaumzeug anlegt. »Sind es dieselben, die die Bahnstrecke angreifen?«, fragte er.
Aiauschi nickte langsam. »Die Franzosen machen ihnen Geschenke und versprechen ihnen die Frauen der Ewe, wenn sie die Transportwege versperren.«
»Und sie hüten den Opferberg der Totenschädel.«
»Ihr Vater hat Ihnen also schon fast alles erzählt«, sagte Aiauschi. »Ja, deshalb fühlen sie sich unbesiegbar, und deshalb fürchten sich viele andere Stämme vor ihnen. Das verleiht ihnen Macht. Sie sind grausam und gierig.«
»Und du, fürchtest du sie auch?«
Aiauschi schüttelte den Kopf. »Mein Großvater war der Mann, der Togo an den deutschen Kaiser verkauft hat. Er hat sogar den großen Häuptling in Berlin besucht. Das habe ich zwar nicht, aber ich war in Ihrer Hauptstadt. Wie soll jemand, der Dampfmaschinen und Straßenbahnen gesehen hat, sich vor buntbemalten Totenschädeln fürchten? Lassen Sie uns weiterreiten, wir sollten versuchen, Anecho noch heute zu erreichen.«
Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander bergan. »Und dennoch fürchtest du dich«, sagte Wilhelm, »jeder fürchtet sich vor Totenschädeln, das ist normal.«
»Nur wenn sie frisch abgeschlagen sind und einen noch ansehen«, erwiderte Aiauschi, »dann sehen sie furchterregend aus, ja.«
»Und solche sollen wir benutzen, um damit die Bato zu erschrecken, richtig?
Aiauschi nickte. »Das Problem ist nur, dass es im Moment keine gibt. In wenigen Tagen ruft der Fetischpriester zum heiligen Trinkfest. Bis dahin müssen sie welche beschaffen.«
»Es heißt doch aber, dass dabei nicht mehr aus Menschenschädeln getrunken wird.«
»So heißt es, ja.«
Sie erreichten Anecho kurz vor Sonnenuntergang. Das Krankenhaus lag idyllisch unter Palmen, Papageien flogen in den Bäumen umher, Krankenschwestern und Ärzte in blütenweißen Kitteln eilten über das Gelände. »Es sind neue Patienten ausDeutsch-Ostafrika gekommen, vor einer Woche«, erklärte Aiauschi, als sie ihre Pferde einem Bediensteten ausgehändigt hatten, der sie in die Stallungen des Krankenhauses führte. »Sie haben den Tropenkoller, so sagt man.« Noch bevor sie die breite Treppe des Hauptgebäudes erreicht hatten, kam ihnen aus dem Haus ein kleiner, alter Mann mit runder Brille und ausgebreiteten Armen entgegen. Er hielt direkt auf Wilhelm zu. »Sie müssen der Sohn des Freiherrn sein!« Er ergriff seine Hand und schüttelte sie begeistert, während Aiauschi sich unter tiefen Verbeugungen zurückzog. »Er hat mir telegrafiert, dass Sie dieser Tage das Land erkunden und uns einen Besuch abstatten würden. Kommen Sie herein, kommen Sie herein!«
Mit wehendem Kittel sprang er vor Wilhelm die Stufen empor. Dann stoppte er abrupt und drehte sich um. »Ich Trottel – Sie wissen ja gar nicht, wer ich bin! Also: Ich bin Professor Reinsberg, Leiter der Nachtigal-Klinik seit ihrer Gründung durch Gustav Nachtigal«, sagte er mit erkennbarem Stolz und schüttelte Wilhelm noch einmal die Hand. »Der Tee steht bereit, folgen Sie mir einfach!«
Das Büro des Professors befand sich im ersten Stock. Es war riesig und ging in einen breiten, runden Balkon über, vor dessen Flügeltüren sich ein dünner, weißer Vorhang langsam im Wind bewegte und dem Raum etwas Theatralisches verlieh.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich!«, rief Reinsberg, als sie eintraten, und deutete auf einen runden Tisch, der mit Zebrafell bezogen war und auf dem ein Teeservice stand. An der Wand hing ein Löwenfell, zwei mannshohe, schneeweiße
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