Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Straßen, und Aiauschi schien seine Verspätung wiedergutmachen zu wollen, indem er umso mehr erzählte. »Eine Million Einwohner hat unser Land, und nur etwa 250 Deutsche leben hier.«
Wilhelm blieb verdutzt stehen. »Und wie funktioniert das?«
»Sehr gut«, antwortete Aiauschi und berichtete von dem System, mit dem die Deutschen das Land beherrschten: Sie beteiligten die Dorfältesten und Häuptlinge an den Steuereinahmen und machten ihnen Geschenke, wenn sie möglichst viele ihre Dorfbewohner für öffentliche Arbeiten zur Verfügung stellten. Taten sie dies nicht, wurden sie abgesetzt. Das geschah hin und wieder auch, wenn in einem Dorf vergessen wurde, die deutsche Flagge zu hissen. Aiauschi erzählte von den Gefahren, die außerhalb der Siedlungen und Dörfer lauerten, von Löwen, Leoparden und von den Sklavenjägern aus dem Norden Afrikas.
»Aber die Sklaverei ist doch abgeschafft?«, fragte Wilhelm verwundert.
»Ja, in Europa«, antwortete Aiauschi, »und auch in den Kolonien. Aber sie hat in Afrika eine lange Geschichte, es gab den Sklavenhandel schon, bevor die Weißen kamen.«
Er erzählte von den Auseinandersetzungen mit den Engländern auf dem Fluss Volta im Grenzgebiet zum britischen Obervolta, auf dem die Deutschen Schiffe einsetzten, um Waren zu transportieren, die nicht selten von englischen Kanonenbooten aufgebracht wurden. Hier, am Volta, lag auch der wichtigste Handelsknotenpunkt, Kete-Kratschi, wo die großen Karawanenstraßen Nordafrikas zusammenlaufen.
»Kete-Kratschi?«, sagte Wilhelm, »davon wurde doch auch im Arbeitszimmer meines Vaters gesprochen, erinnerst du dich? Was ist mit dem Ort?«
Aiauschi sah ihn ernst an und schwieg lange, dann sagte er: »Viele Menschen hier wagen es nicht, den Namen in den Mund zu nehmen. Es gibt dort einen – einen Schädelhügel. Schädel von Menschen, die den Göttern geopfert wurden und die heute als Trinkgefäße für heiliges Wasser dienen. Aber heute werden nur noch Tiere geopfert, heißt es.«
Wilhelm sah ihn fragend an. »Heißt es … sagst du? Was meinst du damit?«
Aiauschi ging langsam weiter. »Offiziell sind viele der Eingeborenen Christen, die Missionare hier sind sehr eifrig. Aber es gibt viele Rituale, die seit ewigen Zeiten praktiziert werden …«
Laute Rufe unterbrachen sie. Aus einer Seitenstraße kam im Gleichschritt ein Trupp barfüßiger schwarzer Polizisten, vorweg ein weißer Beamter mit Tropenhelm und Gewehr, in ihrer Mitte eine Gruppe von Männern, die mit Ketten aneinandergebunden waren und nur stolpernd vorwärtskamen. Sie gingen durch einen Torbogen, dessen eisernes Tor für sie geöffnet wurde, und verschwanden in einem Hof, der von Gebäuden umgeben war.
»Die Polizeistation«, sagte Aiaujschi, der sich auf die andere Straßenseite begeben und Wilhelm mit sich gezogen hatte.
»Was haben diese Männer getan?«, fragte Wilhelm.
»Ich weiß es nicht, aber vermutlich sind sie betrunken auf der Straße aufgegriffen worden. Mittagszeit ist Schnapszeit in Lomé.«
Wilhelm sah ihn verblüfft an. »Schnapszeit?«
»Kommen Sie«, sagte Aiauschi und zog Wilhelm in eine ruhige Nebenstraße, in der außer spielenden Kinder niemand zu sehen war. »Hat Ihnen das noch keiner gesagt? Die meisten Eingeborenen werden mit Schnaps bezahlt statt mit Geld, Branntweinküste wird Togo deshalb auch manchmal genannt.«
Wilhelm schüttelte entgeistert den Kopf. Nein, das hatte er noch nicht gehört. »Fast jedes eintreffende Schiff hat Kisten mit Branntwein an Bord. Die Firmen bezahlen ihre Arbeiter und Diener damit. Damit hat niemand ein Problem, solange nicht tagsüber getrunken wird«, erklärte Aiauschi. »Aber viele nutzen die heißen Mittagsstunden des Tages, an denen die Arbeit ruht, um zu trinken. Die Versuchung ist groß …«
Lautes Geschrei tönte nun zu ihnen herüber, das auch die Kinder ihr Spielen unterbrechen ließ. »Sie werden bestraft«, erklärte Aiauschi gleichmütig.
Wilhelm war entsetzt. »Prügelstrafe für Gefangene hat der Kaiser verboten!« sagte er entrüstet.
»Im Reich ja, in den Kolonien nicht. Was glauben Sie, warum hier alle Polizisten und die meisten Weißen Stöcke bei sich tragen …«
In einem Anflug von Sarkasmus, der ihm eigentlich fremd war, sagte Wilhelm: »Aber sonst läuft alles gut in Togo, ja?«
Aiauschi sah ihn betrübt an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Letzte Woche, so hat man mir berichtet, ist ein Einheimischer gehenkt worden – gleich dort drüben im Hof der
Weitere Kostenlose Bücher