Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hielt. Doch statt zu werfen, näherte er sich mit langsamen Schritten Wilhelm, den Speer erhoben. Wilhelm versuchte, sein Gewehr in Anschlag zu bringen. Es gelang nicht, sein Arm fühlte sich bleischwer an. Er spürte, wie ihm der Regen den Rücken hinunterlief, er hatte das Gefühl, am Boden festgeklebt zu sein.
Je näher der Mann kam, desto deutlicher erkannte Wilhelm das unheimliche Flackern in den rot geränderten Augen, spürte den bohrenden Blick wie einen Bannstrahl, der ihn am Boden festnagelte. Als der Mann noch zwei Schritte entfernt war, blieb er stehen und holte zum Stoß aus. Wilhelm sah auf die Spitze der Lanze, dann schloss er die Augen, immer noch unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.
Ein Stöhnen riss ihn aus seiner Starre. Er öffnete die Augen und sah vor sich Aiauschi auf dem Fetischpriester liegen und ihn zu Boden drücken. Aus Aiauschis Oberschenkel, der vom Speer durchbohrt worden war, rann Blut. Wilhelm war sofort klar, dass Aiauschi sich im letzten Augenblick zwischen ihn und den Angreifer geworfen hatte. Als er jetzt sein Gewehr hob und es auf die beiden Kämpfenden richtete, schleuderte der Fetischpriester Aiauschi mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung von sich und erhob sich. Er ergriff erneut seinen Speer und wandte sich blitzartig Wilhelm zu. Einen Wimpernschlag bevor er zustoßen konnte, drückte Wilhelm auf den Abzug seines Infanteriegewehrs. Die Kugel traf den Angreifer mitten durch die Brust. Der Mann verharrte, starrte Wilhelm an und kippte dann nach vorn gegen Wilhelm, der ihn mit seinem freien Arm auffing. Dann glitt er zu Boden und blieb zu Wilhelms Füßen liegen. Langsam drehte er den Kopf und sah zu Wilhelm auf. Sein Blick ließ Wilhelm erneut erstarren.
Als Wilhelm lautes Geschrei hörte, das rasch näher kam, hob er den Blick und sah die bemalten Schwarzen, die auf den am Boden liegenden Mann zustürmten. Ohne Wilhelm zu beachten,stellten sie sich um ihn und starrten ihn an. Er zeigte keine Regung. Panik legte sich auf ihre Mienen, sie wandten ihre Gesichter Wilhelm zu und wichen dann langsam, mit kleinen Schritten zurück, bis sie sich umdrehten und die Flucht ergriffen. Schon nach wenigen Schritten waren sie im dichten Regen kaum noch zu erkennen, dann verschwanden sie im Unterholz.
Wilhelm kniete sich neben den am Boden liegenden Aiauschi, als er einen stechenden Schmerz in der Schulter spürte. Er sackte auf die Knie, fasste nach hinten und spürte den Speer des Fetisch-Priesters in seinem Körper. Dann wurde es schwarz um ihn.
Priester
Wilhelm wusste, dass er wach war, aber er sah nichts. Als er den Kopf heben wollte, zuckte er zurück: Schmerz schoss durch Arm und Schulter. Er legte den Kopf zurück und merkte, dass es nicht völlig dunkel um ihn herum war. In einem schwachen Lichtschein sah er eine Gestalt neben sich. Sie saß auf einem Stuhl, während er selbst in einem Bett lag. Allmählich wurden die Konturen deutlicher: Er befand sich in einem Zimmer, offenbar allein – außer der Gestalt neben ihm, ein Schwarzer in einem weißen Gewand. Wilhelm versuchte, einen Arm auszustrecken. Er berührte die Person mit einem Finger am Bein. Die sprang auf, stieß einen Schrei des Erschreckens aus, lief aus dem Zimmer und schloss die Tür mit einem Knall hinter sich. Einen Augenblick später wurde sie wieder aufgerissen und mehrere Männer stürmten herein. Sie blieben vor dem Bett stehen, einer beugte sich zu Wilhelm und sagte: »Du bist wach!« Als Wilhelm nicht gleich antwortete, wiederholte der Mann seine Worte. Wilhelm erkannte ihn. »Ja, Vater«, antwortete er. »Wo bin ich, was machen Sie hier an meinem Bett?«
Bevor sein Vater antworten konnte, wurde er von einer kleinen Gestalt zur Seite geschoben, die sich über Wilhelm beugte: Professor Reinsberg. Er leuchtete Wilhelm in die Pupillen, fühlte seinen Puls, tätschelte seine Wangen und sagte: »Sie sind wieder bei uns. Ich sagte Ihnen ja: Sie sind hier jederzeit willkommen …« Dann trat er zur Seite und sagte zu den anderen im Raum: »Wir haben ihn durchgebracht, ich danke Ihnen allen. Wir lassen Vater und Sohn jetzt allein.« Damit schob er sie zur Tür hinaus.
Der Freiherr zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Wilhelms Bett. »Eine Woche«, sagte er, »eine Woche! Ich dachte schon, du kommst nie wieder zu dir.«
»Wieso bin ich hier, was ist geschehen?«
»Du erinnerst dich nicht?«
Wilhelm schüttelte den Kopf.
»Die Eisenbahn, der Fetischpriester …«
Wilhelm starrte ins
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