Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Halbdunkel. »Aiauschi«, sagte er plötzlich und richtete sich im Bett auf, »wo ist Aiauschi?«
Sein Vater atmete tief durch. »Er war auch hier«, antwortete er. »Aber er ist nicht durchgekommen. Eine Kugel steckte in seinem Kopf, die sich nicht entfernen ließ. Er hat das Bewusstsein nicht mehr erlangt. Er hat nicht gelitten, glaub mir.«
Wilhelm starrte ihn an. »Er hat mir das Leben gerettet!«, sagte er und sah plötzlich die Szene überdeutlich vor sich – sah, wie Aiaushi von der Seite herangeflogen kam und den Angreifer zu Boden riss, der im Begriff war, seinen Speer in Wilhelms Herz zu bohren.
»Und du hast zwanzig Polizisten das Leben gerettet. Hättest du den Fetischpriester nicht getötet – diese Wilden hätten unsere Leute massakriert. Ihre Gewehrkugeln schienen nichts gegen sie ausrichten zu können. Erst als ihr Priester getroffen war, gaben sie auf und flohen. Ohne dich hätte es ein Massaker gegeben.«
»Sind sie entkommen?«
»Ja. Die Polizisten haben sich sofort um dich und Aiauschi gekümmert und euren Transport hierher vorbereitet. Das war wichtiger, als sie zu verfolgen. Wir wissen, wer sie sind und wo sie leben, es wird eine Strafexpedition geben. Aber das läuft nicht davon, erst einmal ging es um dich. Der Speer hat in deiner Schulter gesteckt, aber der Priester hatte wohl nicht mehr die Kraft, dich zu töten.«
»Und Aiauschi?«
»Er wurde von einer verirrten Kugel getroffen, die vom Zug aus abgefeuert worden war. Ihn haben sie natürlich auch hierhergebracht«, sagte sein Vater und drückte Wilhelms Hand. Dann seufzte er. »Wir haben ihn noch nicht beerdigt. Ich dachte, du solltest dabei sein.«
Wilhelm nickte. »Lassen Sie mich schlafen«, bat er, »ich bin müde.« Er drehte den Kopf zur Seite, so dass sein Vater die Tränen nicht sehen konnte.
*
Drei Tage später stand Wilhelm zum ersten Mal auf. Er fühlte sich schwach, aber er war glücklich, auf eigenen Beinen zu stehen. Ein Pfleger hatte ihm seine Ausgehuniform gebracht, Wilhelm würde sie bei Aiauschis Beerdigung tragen. Die Reise zu dessen Heimatdorf, wo die Feier stattfinden sollte, war ein Problem für Wilhelm. Aber sie war nicht länger aufschiebbar: Trotz des anhaltenden Regens ließen die Temperaturen keine weitere Verzögerung der Beisetzung zu. Richard von Schwemer hatte eine geräumige Kutsche herrichten lassen, in der Wilhelm sich bei Bedarf hinlegen konnte.
Als er gerade fertig angezogen war und den immer noch gefühllosen Arm in eine Schlinge gelegt hatte, klopfte es an der Tür, und sein Vater trat ein. Er hielt ein Telegramm in der Hand. »Aus Berlin. Von Mutter.« Er reichte es Wilhelm. Es standen nur fünf Wörter darauf: »Erwarte dich in Lagarde, Mutter«.
Wilhelm sah seinen Vater verwirrt an. »Lagarde?«
Der Freiherr nickte. »Sie ist schon auf dem Weingut. Ihrer Mutter geht es nicht gut. Wir sind der Meinung, dass du zu ihr reisen solltest, um dich dort noch einige Wochen zu erholen. Du kannst den Militärdienst jetzt ohnehin nicht fortsetzen, solange du deinen Arm in der Schlinge trägst.«
Wilhelm nickte. »Lagarde«, sagte er versonnen. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Ich bin sofort bereit«, sagte er zu seinem Vater, »geben Sie mir noch ein paar Minuten.«
»Natürlich«, nickte der und ging aus dem Zimmer.
Wilhelm öffnete den Schrank, in dem sich die Kleidung befand, die er bei seiner Expedition mit Aiauschi getragen hatte. Fieberhaft betastete er die Kleidungsstücke. Als er die Hose zur Hand nahm, fühlte er ihn: Der Stein aus Lagarde war noch da! Erleichtert atmetete er auf und steckte ihn in seine Jackentasche.
Das Dorf, in dem Aiauschi aufgewachsen war, unterschied sich von den anderen Orten an der Küste Togos: In der Mitte der Palmenhütten-Ansammlung stand ein weißes, gekalktes Haus. Hier hatte Aiauschis Großvater gewohnt, der ehemalige König des Landes, hier war auch Aiauschi aufgewachsen. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt: Einheimische in ihren besten Anzügen standen im vom Regen aufgeweichten Boden. An diesem Mittag waren die Wolken ein wenig aufgerissen, die Sonne beschien den Platz, wo Aiauschis Sarg auf einem Holzpodest stand.
Ein schwarzer Priester im christlichen Ornat stand still daneben, den Kopf gesenkt, die Hände vor der Brust gefaltet, und wartete darauf, dass alle ihre Plätze einnahmen. Außer einigen Kinderstimmen war nichts zu hören, die Menschen standen schweigend beisammen. »Er war Christ«, sagte der Freiherr leise zu Wilhelm. Die
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