Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
beiden sowie eine Abteilung Polizisten in Festtagsuniform, die ihre Gewehre geschultert und Haltung angenommen hatten, standen etwas abseits der Menschenmenge. »Wir werden uns im Hintergrund halten, wir sind nur Gäste«, fuhr der Freiherr fort, »sie werden die Trauerfeier nach ihrer Tradition durchführen, wenn der Priester gesprochen hat. Dann ziehen wir uns zurück.«
Der Priester sprach kurz, Wilhelm konnte seine Worte nicht verstehen, dann verließ er das Podest, und von der anderen Seite erschien ein Mann, der Wilhelm zusammenfahren ließ. Er war bekleidet nur mit einem Stück Stoff um die Lenden, sein Körper war bemalt und mit Federn beklebt, sein Gesicht leuchtete von weißer Farbe. »Das ist ihr Fetischpriester«, flüsterte sein Vater. Wilhelm sah den Mann an wie einen Geist und wäre gern näher herangetreten. Sein Vater fasste ihn am Arm. »Wir werden jetzt gehen«, sagte er. »Von jetzt an dulden sie keine Weißen mehr in ihrer Nähe.«
»Was werden sie tun?«
»Sie tanzen, sie singen, sie trinken, und sie verbrennen ihn.«
»Und dann?«
Der Freiherr zuckte die Achseln. »Wir waren noch nie dabei, ich weiß es nicht.«
Als Wilhelm die Kutsche erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um. Der Fetisch-Priester starrte ihn an.
Wilhelm fühlte sich erschöpft. Er wandte den Blick ab, stieg in die Kutsche und schloss die Augen.
3 . Lagarde
Die Bahnfahrt von Marseille nach Nancy hatte Wilhelm unruhig verbracht. Da die Schiffspassage von Lomé nach Marseille zu stürmisch gewesen war, um Ruhe zu finden, hatte er in dem überhitzten Zugabteil eine zentnerschwere Müdigkeit gespürt. Doch die Schmerzen in seiner bandagierten Schulter hatten ihn an einem erholsamen Schlaf ebenso gehindert wie der Gedanke daran, wie tief er in Aiauschis Schuld stand – eine Schuld, die er niemals würde begleichen können.
Jetzt saß er in einer Kutsche, die ihn von Nancy nach Lagarde bringen sollte. In einem fiebrigen Halbschlaf, immer wieder aufgeschreckt vom Rütteln und Schwanken der Kutsche, entglitten ihm seine Gedanken. Mal sah er Bilder der Eisenbahn im strömenden Regen vor sich, wutverzerrte schwarze Gesichter, die sich ihm drohend näherten. Dann wieder waren es Bilder von grünen Hügeln und Weinreben in hellem Sonnenlicht und ein Gesicht, das sich über ihn beugte und ihn anlächelte. Er sah sie nicht nur überdeutlich, er hörte auch ihre Stimme, roch den Duft ihres Haars: Er hatte Adèle seit fünf Jahren nicht gesehen, nun spürte er ihre Gegenwart mit allen Sinnen, je näher er Lagarde kam.
Er wusste nicht mehr, wann er ihr zum ersten Mal begegnet war, sie war schon immer dort gewesen, sie war der Mittelpunkt seiner Erinnerungen an die Sommerferien der Familie auf dem großelterlichen Weingut, sie war das Zentrum seiner Gedanken und Gefühle, eine Verheißung unbeschwerten Lebens, von Freiheit und einer glücklichen Zukunft. Bilder ihrer gemeinsamen Erkundungsausflüge durch die endlosen Reihen der Weinstöcke, die ihm als Kind riesengroß erschienen waren; Adèle, die ihn an der Hand hinter sich herzog, damit er nicht vom Weg abkam; Wettrennen auf den staubigen Pfaden der Eselskarren zwischen den Weinbergen, die Adèle meist gewann; Besuche in der Mosterei, wo Adèle frischen Saft aus einem Holzfass zapfte, den sie im kühlen, steinernen Keller tranken und wo ihn fröstelte, nachdem er zuvor in der Mittagshitze des Hochsommers aus allen Poren geschwitzt hatte. Einmal hatte er sich dabei so erkältet, dass der von der Mutter hinzugezogene Arzt ihm Bettruhe verordnete, um eine Lungenentzündung zu vermeiden. Die Fragen der Mutter, wo er sich denn so verkühlt hätte, beantwortete Wilhelm nicht.
Seine liebste Erinnerung waren die späten Nachmittage in der Küche des kleinen Hauses am Ende des Grundstücks, wo Adèle nach dem Tod der Mutter allein mit ihrem Vater lebte, dem Verwalter des Weinguts. Monsieur Printemps kostete frischen Wein und schnitt sich dazu Scheiben von einem Käselaib ab, den er aus der Milch seiner Ziegen selbst gemacht hatte. Wilhelm und Adèle saßen am großen hölzernen Küchentisch und aßen Zwiebelkuchen, den Wilhelm aus der Küche seiner Großmutter aus dem Herrenhaus mitgebracht hatte. Dabei blickten sie durch die verstaubten Scheiben über die elsässische Landschaft und folgten mit den Augen den Flugkünsten der Falken. Wilhelm genoss die Stille des Raumes und hoffte, der Zeiger der Standuhr würde stehenbleiben, bevor es sechs Uhr wurde und seine Mutter ihn zum
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