Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
mehr der Nebel, der vom Kanal den Hügel heraufkroch, die Hütte umfing.
Wilhelm hatte lange am Fenster gestanden, als ein Klopfen seine Andacht störte. Er ging zur Tür, öffnete sie und erkannte sie sofort, obgleich sie in einem seltsamen Aufzug vor seiner Tür stand: Über ihren Morgenrock hatte sie einen Umhang gelegt, der ihr Gesicht zur Hälfte verdeckte. Nur ihre Augen verrieten sie. »Großmutter!« rief er und trat einen Schritt auf den Flur hinaus.
»Leise, leise«, mahnte sie, legte einen Finger auf die Lippen und sah sich im Flur um wie jemand, der verfolgt wird. Dann schob sie sich an ihm vorbei ins Zimmer.
Wilhelm schloss die Tür, seine Großmutter stand in der Mitte des Raumes. Als er einen Schritt auf sie zutrat, bedeutete sie ihm mit einer energischen Handbewegung, stehen zu bleiben. »Keine Geräusche!«, sagte sie, »sonst merkt sie, dass ich bei dir bin. Sie hört alles.«
»Wer?«
»Na, deine Mutter. Sie muss es nicht wissen.«
»Warum nicht?«
»Sie weiß sowieso schon zu viel«, raunte die alte Frau und drehte sich langsam zu Wilhelm um. Ihre sonst so lustigen Augen sahen ihn misstrauisch und furchtsam zugleich an. »Sie sagt, dass Antoine tot sei«, flüsterte sie. »Aber er ist nicht tot. Er hat es mir selbst gesagt. Sie haben ihn zwar beerdigt und einen Leichenschmaus gemacht, aber er ist nicht tot.«
Wilhelm fühlte Panik in sich aufsteigen. »Großmutter …«, er trat einen Schritt auf sie zu und berührte mit seinem unverletzten Arm ihre Schulter, »… was hat das mit Helène zu tun? Wieso weiß sie zu viel? Was meinst du damit?«
»Sie hat mir gesagt, dass er gestorben sei. Sie hat seine Beerdigung organisiert, sie wohnt jetzt hier. Sie denkt, sie weiß alles, aber ich weiß es besser. Er versteckt sich nur, bis sie wieder fort ist.«
»Warum sollte er das tun?«
Die alte Frau schnaubte ungeduldig. »Du bist immer noch so begriffsstutzig wie früher! Weil … er … nicht … tot … ist!«, sagte sie eindringlich. »Warum sollte er tot sein? Er war vollkommen gesund und hatte Appetit für zwei.«
»Viele sterben, ohne vorher krank zu sein und ohne ihren Appetit zu verlieren. Hast du ihn denn danach gesehen?«
»Natürlich, auf dem Totenbett.«
»Nein, ich meine, nach der Beerdigung?«
»Du denkst, ich bin verrückt, stimmt’s?«, sagte sie und trat so dicht an Wilhelm heran, dass er den kleinen Nachttisch nebenseinem Bett umstieß. »Ja, ich habe ihn gesehen, auch danach. Er kommt nur zu mir – zu mir allein.«
Wilhelm fröstelte. In diesem Augenblick vernahm er Schritte auf dem Flur und dann die Stimme seiner Mutter vor der Zimmertür. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Bevor er etwas sagen konnte, antwortete seine Großmutter: »Besser könnte es nicht sein, aber morgen ist ja auch noch ein Tag.« Ein Lieblingssatz des Großvaters – sie sagte ihn mit einer Stimme, die seiner zum Verwechseln ähnlich klang.
Die Tür flog auf, und Helène kam herein. Sie erfasste die Situation sofort, und nachdem sie ihre Überraschung unterdrückt hatte, sagte sie: »Wie schön, Mutter, du hast dich entschlossen, zum Abendessen aufzustehen. Das hatte ich mir so sehr gewünscht! Es gibt Hühnerbrühe, das wird dich noch mehr kräftigen. Komm, Wilhelm und ich begleiten dich in den Salon. Der Tisch ist bereits gedeckt.«
Als sie sich setzten und Wilhelm seine Großmutter ansah, strahlten ihre Augen ihn so an, wie sie es immer getan hatten. Wilhelm blickte sich um und deutete auf den vierten Platz. »Wen erwarten wir noch?« fragte er seine Mutter.
»Das Gedeck ist für Antoine. Großmutter hat darum gebeten. Er hat schließlich fast achtzig Jahre lang auf diesem Platz gesessen«, sagte Helène, »von Kindesbeinen an. Ich finde, da sollten wir für ihn mit aufdecken, nicht wahr, Mutter?«
Wilhelm sah zu seiner Großmutter, die freudig nickte. Er nahm ihre Hand und drückte sie.
*
»Der Arzt meinte, es sei besser, wenn sie in die Klinik nach Straßburg käme, hier könne ihr zu viel zustoßen in ihrer Verwirrtheit«, erklärte Helène, als sie nach dem Essen zu zweit im Kaminzimmer saßen. »Ich fürchte aber, dann verlieren wir sie schneller, als wir es uns vorstellen können. Sie bezieht ihre ganze Kraft aus der Vorstellung, dass dein Großvater noch lebt und hier im Haus ist. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, spricht sie mit ihm. Sie lachen und singen sogar zusammen, so wie sie es früher getan haben.«
»Sie singen …?«
»Na ja, nicht in Wahrheit natürlich. Sie singt
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