Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
allein, aber manchmal ahmt sie seine Stimme nach, und es klingt, als wäre er tatsächlich da. Es ist unheimlich, aber besser, als wenn sie in einem Krankenhaus wäre, wo man sie als verrückte Alte festbindet oder sonst was mit ihr anstellt.«
Wilhelm nickte. Unvermittelt fragte er: »Adèle – haben Sie Adèle gesehen?«
Helène blickte überrascht auf. »Wilhelm, du bist ein verlobter Mann! Wieso fragst du nach ihr? Aber gut, wenn du es unbedingt wissen möchtest: Nein, ich habe sie nicht gesehen. Ich habe auch noch keine Zeit gehabt, mit ihrem Vater zu sprechen oder nach ihr zu fragen. Ich habe ihn nicht mal aufgesucht. Warum sollte ich auch? Die Weinbauern machen noch Winterschlaf, da gibt es nichts zu besprechen.«
»Ich meine ja bloß … ob es ihnen gutgeht.«
»Du kannst von mir aus gern hingehen und nach ihr fragen«, sagte Helène spitz, und Wilhelm hörte an ihrem Unterton, dass sie in Wahrheit das Gegenteil meinte.
Er nickte langsam und hatte das Bedürfnis, etwas Besänftigendes zu sagen. »All die Sommer, die wir hier verbracht haben – sie sind das schönste Geschenk, dass Sie mir gemacht haben, Vater und Sie. Aber ich weiß, was Sie von mir erwarten, und ich werde alles tun, um Sie nicht zu enttäuschen.«
Helène atmete tief durch. »Du bist jetzt volljährig und triffst deine eigenen Entscheidungen. Ich bitte dich nur um eins: Tu nichts, was dir schadet und was du später bereuen wirst. Du hast hier Jahre verlebt, die dir keiner nehmen kann. Aber niemand weiß, wie die Jahre werden, die vor dir liegen. Außer du selbst! Du hast es in der Hand, sie nach deinem Willen zu gestalten.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Wilhelm und sah sie ernst an. »Die Reise, die hinter mir liegt, war unglücklich, aber sie war nicht sinnlos. Denn ich habe in diesem seltsamen Land erlebt, dass dem eigenen Willen Kräfte gegenüberstehen können, die machtvoller sind.«
»Mag sein«, sagte Helène, die müde wirkte und sich erhob. »Duhast eine anstrengende Reise hinter dir, du solltest jetzt schlafen. Und falls Großmutter wieder bei dir auftauchen sollte – hab keine Angst vor ihr, auch wenn sie seltsame Dinge tut. Sei sanft zu ihr, sie ist nicht mehr von dieser Welt.«
»Ich warte hier, bis der Kamin heruntergebrannt ist«, sagte er, als sie das Zimmer verließ. Dann löschte er das Licht, so dass der Raum nur noch vom Flackern des Feuers erleuchtet wurde, trat ans Fenster und sah ins Dunkel hinaus.
Adèle
Nichts an dem kleinen Haus am Ende des Anwesens schien sich verändert zu haben, die Risse in den Türen waren vielleicht ein wenig breiter, zwei der Sprossenfenster in der Küche ersetzt worden, Wilhelm erkannte es am frischen Kitt. Einige Kopfsteine vor der niedrigen Eingangstür saßen locker, manche fehlten. Doch der helle Sonnenschein dieses Morgens überstrahlte all das. Wilhelm horchte, ob etwas aus dem Inneren des Hauses zu hören war, aber es war totenstill. Er klopfte. Auch nach dreimaligem Wiederholen blieb alles still. Er lauschte angestrengt und erschrak umso mehr, als er hinter sich eine Stimme hörte. »Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte der Mann, der sich lautlos genähert hatte. Wilhelm wirbelte herum und blickte in ein Gesicht, das er nur zu gut kannte: Monsieur Printemps, Adèles Vater. Wilhelms Herz machte bei seinem Anblick einen Satz, er strahlte und ergriff spontan die Hand des Mannes. »Wie schön, Sie zu sehen!«, sagte er mit unverhohlener Freude. »Sie haben sich nicht die Spur verändert.«
»Sie dagegen sehr«, antwortete Monsieur Printemps und musterte Wilhelm eingehend. Sein Blick blieb an dessen verbundenem Arm hängen. »Und die Zeiten auch«, fügte er hinzu, »keine guten Zeiten. Was ist passiert?«
Wilhelm sah auf seinen Arm. »Afrika. Aber es wird schon wieder, der Verband kommt in Kürze runter.«
»Afrika, eh?«, wiederholte Monsieur Printemps. »Was Sie meinen ist: Franzosen …«
Wilhelm war unsicher, er zögerte. »Wie kommen Sie darauf?«
»In Afrika lassen sie noch ihre Neger aufeinander los, damit sie ihre schönen Tropenanzüge nicht beschmutzen müssen. Hier wird das nicht mehr möglich sein. Hier werden die Deutschen sich dreckig machen müssen. Ebenso die Franzosen. Es hat schon begonnen.«
Wilhelm sah ihn verständnislos an. »Was hat begonnen?«
»Wie viele Jahre sind die Pickelhauben nun schon hier im Elsass, eh?«, fragte Printemps und trat so dicht an Wilhelm heran, dass er seinen Atem spürte. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr
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