Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
schläfrigen Vorlesungen über abwegige juristische Probleme zu folgen. Der Reiz des Neuen war schnell verflogen, die wenigen Studentinnen hatten kaum Kontakt untereinander, die meisten wohnten bei ihren Eltern oder, sofern sie von auswärts kamen, bei Verwandten, die auf den richtigen Umgang und angemessene Freizeitvergnügungen achteten. Nur die wenigsten hatten Freiheiten wie Elisabeth, die das tägliche Zusammensein mit Friderike ebenso wie die gemeinsamen Abendessen mit der Zimmerwirtin genoss, die sich als scharfsinnige Beobachterin und scharfzüngige Kommentatorin erwies.
»Wenn ich Sie beide so sehe«, sagte Frau Eisenblätter eines Abends, »kann ich Sie mir beim besten Willen nicht am Arm eines schneidigen jungen Leutnants vorstellen. Oder als Gattin eines Kolonialoffiziers.«
»Das nun am allerwenigsten!«, rief Elisabeth und hob abwehrend die Hände. »Von den Kolonien habe ich die Nase voll. Seitich Kleinkind war, höre ich alle möglichen Geschichten darüber. Afrika spielt in unserer Familie eine größere Rolle als Potsdam, es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht darüber gesprochen wird.« Sie erzählte von ihrem Vater und dessen vielen Reisen in die Kolonien. Sie beugte sich vor und sagte verschwörerisch: »Ich glaube, was sie dort am meisten genießen, ist, dass sie sich vor niemandem rechtfertigen müssen, am wenigsten vor ihren Frauen. Es kommt mir vor, dass sie dort wie kleine Jungen herumtoben, ohne fürchten zu müssen, dass ihre Mutter hinterher mit ihnen schimpft.«
»So haben Sie Ihre Eltern empfunden?«
»Nein, nicht ganz so«, sagte Elisabeth beschwichtigend, »andererseits: Ich hatte immer das Gefühl, dass er ihr Dinge verschweigt, weil er genau weiß, dass sie es nicht gutheißen würde. Aber was soll’s – immerhin hat er mir die Erlaubnis gegeben, hier zu sein, ein gar so schlechter Mensch kann er also nicht sein. Wenn er allerdings sähe, dass ich hier sitze und rauche, würde er es sich doch noch anders überlegen.«
»Nur zu«, sagte Frau Eisenblätter und reichte Elisabeth das Zigarettenetui über den Tisch, »es soll zwar ungesund sein, habe ich mir sagen lassen, aber es macht sich doch ein recht wohliges Gefühl im Bauchraum breit.«
»Genau«, sagte Elisabeth und blies Friderike eine Rauchschwade ins Gesicht, »und es lässt die Menschen so geheimnisvoll aussehen, wenn sie hinter den Wolken verschwinden …«
»… oder hinter einem Stück Wurst«, erwiderte Friderike, nahm ein Stück Cervelatwurst vom Teller und drückte es Elisabeth auf die Stirn.
»Aber meine Damen«, rief Frau Eisenblätter in das schallende Gelächter der beiden hinein, »denken Sie doch daran, dass wir in ernsten Zeiten leben, unser Kaiser hat es erst gestern wieder betont.« Elisabeth nahm die Wurstscheibe von der Stirn, hielt sie wie eine Fahne in die Höhe und sagte feierlich: »Auf den Kaiser!«
Die Ansprachen des Kaisers waren in den vergangenen Tagen das vorherrschende Thema gewesen. Vor allem nach seiner Rede im Reichstag, in der er betont hatte, er kenne nun keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, kannte die Begeisterung fürihn und die bevorstehende »Bestrafung« Frankreichs keine Grenzen mehr. Die Zeitungen berichteten täglich in Wort und Bild von jubelnden Menschenmassen, die die Soldaten zu den Zügen Richtung Westen begleiteten. Bevor das erste Herbstlaub fällt, seien sie zurück und Frankreich am Boden, versprach der Kaiser.
Entsprechend groß war die Empörung über Berichte in ausländischen Zeitungen, wonach sich deutsche Soldaten im besetzten Belgien Übergriffen auf Zivilisten schuldig gemacht hätten. Der Kaiser persönlich stellte klar, dass es in Wahrheit genau umgekehrt sei: Belgier schickten im Schutz der Nacht ihre Kinder vor, um schlafenden deutschen Soldaten die Augen auszustechen und ihnen die Hände abzuhacken – man werde solche hinterhältigen Gräueltaten nicht ohne die passende Antwort hinnehmen.
»Unsere Soldaten sind anständig«, sagte die neue Bewohnerin, »sie kämpfen nur gegen Soldaten, niemals würden sie auf Frauen und Kinder schießen!« Und sie erzählte Elisabeth und Friderike von den täglichen Straßenfesten, mit denen ausrückende Soldaten in Berlin verabschiedet würden: »Man geht abends raus zum Abschreien. Das ist ein Riesenspaß, alle machen das!«
»Abschreien?«, wiederholte Elisabeth. »Wie geht das denn?«
»Man stellt sich mit Freunden an eine Straßenkreuzung oder an einen Bahnhof und wartet, bis welche in grauen
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