Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
kleinen Wasserbehälter trug. Wilhelm freute sich, wenn er die beiden kommen sah. Der Junge erinnerte ihn an seinen jüngsten Bruder Karl, den er wegen der Sorge um Adalberts Gesundheit in der letzten Zeit ein wenig vernachlässigt hatte. Er trug das hellblonde Haar sorgfältig gescheitelt, trotzdem fiel es ihm immer wieder in die Stirn, mit einer schnellen Handbewegung schob er es aus dem Gesicht. In diesen Momenten sah er Karl tatsächlich zum Verwechseln ähnlich. Er hatte im Laufe der Tage durchaus bemerkt, dass er Wilhelms besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es schien ihm zu gefallen, und er machte sich schon von weitem durch Winken bemerkbar. Wenn er seinen Kanister abgestellt hatte, hob Wilhelm zum Dank die Hand und lächelte.
»Der Junge mag dich«, sagte Robert, »bei Kindern und Pferden hast du einen Stein im Brett. Ach ja – und bei französischen Mädchen natürlich …«
Die Erwähnung Adèles versetzte Wilhelm einen Stich. Immer wieder in den letzten Tagen hatte er den Gedanken, ein Pferd zu besteigen und auf schnellstem Weg nach Lagarde zu reiten, nur mühsam unterdrücken können. Er wusste, dass er unter normalen Bedingungen in weniger als zwei Tagen das Dorf erreichen konnte. Er seufzte und sah Robert nachdenklich an. »Und du bei Frauenrechtlerinnen«, erwiderte er dann. »Hast du eigentlich in letzter Zeit Post von meiner Schwester …«
Schüsse, die aus der Stadt zur Brücke herüber hallten, unterbrachen ihn. Erst zwei in kurzer Folge, dann drei weitere in größeren Abständen. »Diese verfluchten Idioten!«, zischte Robert, »jetzt ballern sie schon am helllichten Tage herum!« Sie liefen zum Marktplatz.
Im Ort herrschte Stille. Niemand zeigte sich auf den Straßen. Außer Atem erreichten sie das Schulgebäude und sahen eine Gruppe von Soldaten im Halbkreis stehen und zu Boden blicken. Wilhelm und Robert drängten sich durch. Und dann sahen auch sie es: Zu Füßen der Männer lagen zwei deutsche Infanteristen in ihrem Blut. Dem einen hatte eine Kugel die Schädeldecke weggerissen, der andere hatte eine klaffende Wunde am Bauch. Er stöhnte und spuckte Blut.
In den folgenden Stunden fielen keine weiteren Schüsse, die gespenstische Ruhe dauerte an. Soldaten patrouillierten durch die Gassen, kein Bewohner zeigte sich, weder auf der Straße noch an einem der Fenster. Erst das Signal des Hornisten, das plötzlich vom Dach der Schule erschallte, zerriss die Stille: Es rief die Soldaten in ihre Quartiere zurück.
Franctireure hätten aus einem der Häuser das Feuer eröffnet, zwei deutsche Soldaten seien getroffen worden, wurde ihnen mitgeteilt. Die Oberste Heeresleitung sei von dem feigen Attentat telegrafisch in Kenntnis gesetzt worden und habe angeordnet, unverzüglich Vergeltungsmaßnahmen einzuleiten, sofern die Bevölkerung nicht bereit sei, die Heckenschützen auszuliefern.
Das Zusammentreiben der Menschen begann umgehend und verlief schnell und ohne Widerstand. In weniger als einer Stunde standen alle Bewohner von Dinant auf einer Wiese hinter der Stadtmauer, umringt und bewacht von Soldaten. Der Standortkommandant ließ eine Salve abfeuern, damit Ruhe einkehrte. Dann trat ein Dolmetscher vor die Menge und forderte die Partisanen zum Vortreten auf, die am Mittag auf deutsche Soldaten geschossen hätten. Niemand trat vor. Er wiederholte den Befehl und verlangte, die Heckenschützen zu benennen, andernfalls sei man gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die auch Unschuldige treffen könnten.
Erneut erfolgte keine Reaktion. »Jeden Zehnten!«, ertönte der Befehl. Soldaten drangen in die Menge vor, ergriffen Männer, Frauen und Kinder und führten sie zu einem Zaun am Ende der Wiese. Es herrschte unheimliche Stille, selbst die Krähen hatten aufgehört zu lärmen. Dann hörte man vom Zaun her die Schüsse, während flackernder Lichtschein die Abenddämmerung erhellte: Aus den Dächern der Stadt schlugen Flammen.
Abschreien
Eine neue Studentin war in die Wohnung in der Schlüterstraße eingezogen, ebenfalls eine Berlinerin. »Jetzt stellen wir hier die Mehrheit«, sagte Elisabeth zu Friderike, als sie Babette von Schorndorf halfen, ihre Koffer zu verstauen, »und dann zeigen wir den Hamburgern mal, wie man in Berlin zu feiern versteht!«
Elisabeth war nämlich nicht wenig enttäuscht von der Nüchternheit und Sachlichkeit der Hamburger. Sie hatte mehr vom studentischen Leben erwartet, als jeden Tag in schlecht beleuchteten und muffigen Lesesälen zu sitzen oder im Hörsaal
Weitere Kostenlose Bücher