Zeitenlos
zu haben, aber sie hatte sich die Buchhandlung auch nicht ausgesucht. Für sie war die Arbeit dort eher Pflicht als Vergnügen.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich schulterzuckend. »Ich habe dort immer gerne Bücher gekauft, und kurz nach dem Unfall erinnerte ich mich daran, gesehen zu haben, dass sie dort gerade eine Aushilfe suchen.« Ich forschte in seinem Gesicht nach irgendeiner Reaktion, bemerkte aber nichts Ungewöhnliches.
»Und die Arbeit macht dir Spaß?«
»Ja, irgendwie schon.« Ich hatte etwas zu tun und mochte es, mein eigenes Einkommen zu haben. Weil ich wissen wollte, was er wirklich dachte, stellte ich eine Gegenfrage: »Warum willst du das wissen? Findest du das eigenartig?«
Er lächelte erneut und senkte den Blick. »Nein, überhaupt nicht.«
»Bücher können ziemlich cool sein.« Ich versuchte, ihm die offensichtlich merkwürdige Wahl meines Arbeitsplatzes schmackhaft zu machen. »Auch sie haben ihre Geschichte. Besonders in einer Secondhand-Buchhandlung. Ich frage mich oft, wo sie wohl schon überall gewesen sind. Das ist wirklich toll!«
»Oh ja, das glaube ich dir«, sagte er und langte nach einer Pommes. »Ich habe selbst eine ganze Sammlung.«
»Warum überrascht mich das nicht?« Ich starrte auf mein Essen und merkte, dass ich nur damit gespielt hatte. Auch Wes war das nicht entgangen.
»Es wäre hilfreich, wenn du es auch essen würdest.« Er lächelte wieder.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an seinen Lippen zu hängen, als dass ich an Essen denken konnte, biss aber von einer Pommes ab und zeigte ihm demonstrativ den Rest.
»Ich mag Bücher auch«, fuhr er fort. »Außerdem ist es schön, jemanden zu treffen, der alte Dinge ebenso schätzt wie neue. Die meisten jungen Leute sind heute viel zu sehr an technischen Dingen interessiert und haben keine Zeit mehr für Hobbys, bei denen sie denken müssen.«
Nachdem wir mein langweiliges Leben so auf den Punkt gebracht hatten, fühlte ich mich wie ein Freak. Außerdem hatte er mich ›jung‹ genannt, was nun gar nicht cool war. Ich musste unbedingt seine Aufmerksamkeit von mir ablenken.
»Was studierst du in Berkeley?«, fragte ich und biss von meinem Sandwich ab.
»Chemie«, antwortete er beiläufig. Jetzt fühlte ich mich zwar nicht mehr wie ein Freak, aber doch etwas unzulänglich. Er sah nicht nur gut aus, hatte Geld und unglaublich viel Charme, er war auch noch intelligent.
»Nicht schlecht, das hätte ich nicht gedacht«, entfuhr es mir. Das war ein Fehler, denn er hakte sofort nach.
»Was hättest du denn gedacht?«, wollte er wissen und lehnte sich zurück. Darüber musste ich kurz nachdenken.
»Na ja …« Ich sah ihn abschätzend an. »Vielleicht Finanzwirtschaft?«
Er lachte, als hätte ich einen tollen Witz gemacht. »Der war gut! Nein, keine Finanzwirtschaft.«
Wir waren mit dem Essen fertig, und er sammelte unseren Müll ein. Ich hätte den Nachmittag gerne noch etwas verlängert, aber die Arbeit rief. Zum ersten Mal wünschte ich mir, nicht in die Buchhandlung zu müssen. Ich hatte noch so viele Fragen.
»Warum Chemie?«, hakte ich nach, als wir den Müll entsorgten. Er sah einfach nicht wie ein Chemiker aus. Und obwohl der Beruf in seiner Familie lag, überraschte mich seine Wahl aus irgendeinem Grund. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Wes besser auf dem Cover einer Zeitschrift vorstellen konnte als im Laborkittel.
»Mein Onkel hat mein Interesse daran geweckt. Kurz bevor er starb, arbeitete er an einem medizinischen Durchbruch, der viele Menschen geheilt hätte. Deshalb habe ich mir vorgenommen, in seinem Sinne weiterzumachen. Wir werden sehen.« Schulterzuckend hielt er mir die Tür auf.
Im Gehen war es schwierig, seinen Gesichtsausdruck zu sehen, aber ich merkte trotzdem, dass er versuchte, das Thema herunterzuspielen, auch wenn ihm das nicht sehr gut gelang. In Gedanken setzte ich Verantwortungsgefühl auf die Liste seiner guten Eigenschaften.
An der Kasse hing ich den ganzen Nachmittag meinen Tagträumen nach und wurde mit jeder Sekunde neugieriger. Es gab einiges, was keinen Sinn ergab und ich unbedingt aufklären wollte. Ich hatte jemanden getroffen, den ich mehr mochte, als ich vermutlich sollte, und der mir doch nur Rätsel aufgab. Er besaß so viel Geld, dass selbst ein Erwachsener kaum gewusst hätte, wie er es sinnvoll verwalten sollte, aber keine Familie, die ihm dabei helfen konnte. Er war ebenso lieb und offen wie kompliziert. Ich war unschlüssig, ob ich wie so oft einfach zu
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