Zeitenlos
wegen des ernüchternden Behandlungsergebnisses einstellte – alle Patienten starben innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Transfusion.
Dank neuer Methoden, die es erlaubten, Antikörper aus Alligatorblut zu gewinnen, war die Wissenschaft jetzt in der Lage, an diese Forschung anzuknüpfen und neue Heilverfahren gegen viele Krankheiten zu finden. Ich scrollte mit der Maus nach unten, um die für mich relevanten Informationen zu finden und sah, dass für den Doktor dasselbe Todesjahr angegeben war: 1959.
Mit zusammengepressten Lippen schloss ich auch diese Internetseite. Ich suchte den Namen Dr. Oliver Thomas kreuz und quer mit sämtlichen Begriffen, die mir einfielen, und jedes Mal war der einzige Doktor dieses Namens 1959 in seinem Haus außerhalb San Franciscos gestorben, das zufällig ungefähr dort stand, wo Wes nach eigener Aussage gewohnt hatte. Ich atmete ganz tief ein und ließ die Luft mit einem so tiefen Seufzer wieder heraus, dass einzelne Haarsträhnen hochflogen. Dann schaltete ich den Bildschirm aus. Lächerlich , dachte ich.
Schließlich ging ich wieder ins Bett. Mittlerweile war es Mitternacht. Getäuscht zu werden war etwas, das ich überhaupt nicht abkonnte, und doch hatte Wes genau das aus irgendeinem Grund getan. Ich verstand einfach nicht warum. Er war so nett gewesen, so perfekt. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem neuen Wissen anfangen sollte. Meiner Mutter konnte ich nichts davon erzählen, denn sie fing gerade an, ihn zu mögen. An Kerry konnte ich mich auch nicht wenden, weil sie ihn total runtermachen würde. Auch wenn das nur gut gemeint war, würde ich mich danach noch schlechter fühlen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand ihm misstraute. Als mir das bewusst wurde, verdrehte ich im Dunkeln die Augen. Ich verteidigte ihn tatsächlich, obwohl er es nicht verdient hatte. Warum würde es mir etwas ausmachen, wenn andere Leute ihn für unaufrichtig hielten? Ich ärgerte mich, dass ich mir so viele Gedanken darüber machte.
Irgendwo in meinem Innern sagte mir eine Stimme, dass ich mich raushalten sollte. Es musste einen Grund geben, warum er mir diese Geschichte erzählt hatte, aber aus welchem Grund auch immer, ich würde es wahrscheinlich nie herausfinden. Ganz sicher würde ich ihn nicht anrufen, um zu beichten, dass ich hinter seinem Rücken Privatdetektiv gespielt hatte – und ihm dann ganz nebenbei vorzuwerfen, dass er nicht nur wegen seines Vaters gelogen, sondern zu allem Überfluss einen Onkel hatte, der noch vor seiner Geburt gestorben war. Nein, das würde ich nicht tun. Ansonsten hatte ich nur noch die Option, darüber hinwegzusehen und das Ganze zu vergessen, oder ihn nicht mehr zu treffen. Keine der Möglichkeiten gefiel mir, daher beschloss ich, Wes erst mal eine Zeit lang etwas aus dem Weg zu gehen.
Mehr als eine Woche schob ich Schulprojekte und Hausaufgaben vor. Ich sah Wes nur einmal nach dem Mittagessen mit meiner Mutter. Dass er merkte, wie sehr ich mich um Distanz bemühte, war klar, aber er fragte nicht warum, sondern schien damit zufrieden, mir genau so viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich wollte. Ich war mir nicht sicher, ob das gut war oder nicht. Einerseits war ich froh, dass er nicht alle fünf Minuten wissen wollte, was los sei, andererseits ärgerte es mich, dass ihn meine Reserviertheit und lahmen Entschuldigungen nicht zu stören schienen.
Abgesehen davon, dass wir uns nur einmal in fast zwei Wochen gesehen hatten, telefonierten wir so ziemlich jeden Tag miteinander; doch ansonsten vergrub ich mich in meine Hausaufgaben, die ich als Ausrede dafür nutzte, zu Hause zu bleiben. Anfangs war ich stolz auf mich und meine Psychospiele, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich mir etwas vormachte. Ich konnte die Fassade nicht viel länger aufrechterhalten und musste mich entscheiden, ihn entweder wieder zu treffen oder die ganze Sache endgültig abzublasen.
Ich redete mir ein, dass ich nicht belogen werden wollte, aber das funktionierte nicht. Ich musste ihn sehen – Lügen hin oder her. Meinen Sinneswandel rechtfertigte ich damit, dass ich die Wahrheit wissen wollte. Und würde er nicht ehrlich zu mir sein, würde ich ihm in Zukunft eben aus dem Weg gehen. Mit dieser Entscheidung konnte ich leben, doch weil ich so viel Zeit damit verbracht hatte, mir über Wes den Kopf zu zerbrechen und darüber, was ich ihm sagen würde, hatte ich völlig übersehen, was sich direkt vor meiner Nase zu Hause abspielte.
Mama und ich frühstückten gerade
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