Zeitenlos
lächelte. »Hast du auch so einen Heißhunger auf was Süßes?«
»Ja, habe ich«, antwortete sie und nahm sich einen Keks.
Sie hielt mir die Packung wieder hin, und ich griff auf dem Weg zum Kühlschrank zu. Wenn ich Kekse esse, trinke ich gerne Milch dazu, deshalb nahm ich ein Glas aus dem Schrank, goss mir Milch ein und kaute meinen Keks.
»Wie läuft’s mit Wes?«, fragte Mama.
Die Frage war einfach und auch nicht ungewöhnlich, aber sie kam völlig aus heiterem Himmel, sodass ich fast meine Milch verschüttete. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich wegen meiner Zweifel tatsächlich Schuldgefühle hegte. »Gut«, murmelte ich mit vollem Mund. Ich war nicht in der Stimmung für Details oder gar das Eingeständnis, dass ich ihm jetzt schon nicht mehr vertraute. Mama hatte sich gerade erst damit abgefunden, dass ich mit ihm zusammen war, deswegen war es wohl das Beste, wenn ich Arbeit vorschob und mich so schnell wie möglich wieder verdrückte. Ich griff mir noch eine Handvoll Kekse, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verzog mich.
Zurück in meinem Zimmer dachte ich darüber nach, warum es für mich überhaupt einen Grund gab, so nervös zu sein. Ein paar Daten waren anscheinend durcheinandergeraten. Na und? Vielleicht wollte er mir nicht erzählen, dass sein Verlust noch nicht lange her war. Manche Menschen mögen kein Mitleid. Ich beschloss, mich mit dieser Erklärung zufriedenzugeben und machte mich über die Kekse her. Dann putzte ich mir die Zähne und ging ins Bett.
Das war der einfache Part, aber dann auch einzuschlafen war eine andere Sache. Eine ganze Stunde wälzte ich mich unruhig hin und her. Die Frage nach dem Warum ging mir nicht aus dem Kopf, und sosehr ich es auch versuchte, ich wurde sie nicht los.
Wes war neunzehn Jahre alt. Wenn sein Vater tatsächlich letztes Jahr gestorben war, wäre er zu dem Zeitpunkt achtzehn gewesen. Es gab folglich keinen Grund, warum er bei seinem Onkel gewohnt haben sollte, es sei denn, er wollte nicht allein sein. Aber er hatte gesagt, sein Onkel habe sich um ihn gekümmert . Warum hatte er sich um ihn kümmern müssen? Und warum hatte er den Onkel überhaupt erwähnt? Der Onkel . Das war’s. Ich warf die Bettdecke zurück, setzte mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl und hoffte darauf, das Rätsel zu lösen.
Wes hatte erzählt, dass sein Onkel ein angesehener Wissenschaftler gewesen war. Irgendetwas würde ich also sicherlich über ihn herausbekommen. Es war der einzige Name, den ich sonst noch hatte, und deshalb googelte ich ihn. Meine ersten Anläufe brachten bei Oliver Thomas zu viele Treffer und keine Hinweise auf einen Doktor, also beschränkte ich die Suche auf »Dr. Oliver Thomas«. Ein Artikel von der Berkeley Universität erschien. Gespannt richtete ich mich kerzengerade auf. Mir war klar, das musste er sein. Mit einem Doppelklick öffnete ich den Link.
In dem Artikel ging es darum, dass die Universität in Anerkennung seiner Forschung auf dem Gebiet der Blut- und Zellstruktur ein Studentenwohnheim nach Dr. Thomas benannt hatte. Dr. Thomas wurde als einer der ersten Wissenschaftler beschrieben, der nicht nur die Blutgruppenbestimmung erforscht hatte, sondern auch Wege, Blut zu konservieren; in seinem späteren Leben tat er sich durch innovative Zellforschung hervor. Laut dieses Zeitungsartikels war das Gebäude kurz nach seinem Tod am 1. Dezember 1959 nach ihm benannt worden.
Ich kniff die Augen zusammen und las die Jahreszahl zweimal. Dann ließ ich frustriert den Kopf auf die Arme sinken. Ich machte alles nur noch schlimmer. Ohne jeden Grund stellte ich Nachforschungen über fremde Leute an. Und es handelte sich dabei noch nicht einmal um die richtige Person. Ich schloss die Seite und startete eine neue Suche.
Diesmal gab ich »Dr. Oliver Thomas, angesehener Wissenschaftler« ein und landete bei einer medizinischen Fachzeitschrift, die sich mit experimenteller Krebsforschung befasste. Fast hätte ich auch diese Seite geschlossen, aber da fiel mir eine Textstelle über Blutforschung ins Auge, ein Begriff, über den ich schon zu oft gestolpert war, um es noch als Zufall abzutun. Seufzend hielt ich einen Moment inne und las dann weiter. Dieser Artikel stammte von einem Mediziner, der auf der Basis von Alligatorblut an Heilverfahren für Krebs und HIV -Infektionen arbeitete. Darin hieß es, dass Dr. Oliver Thomas der Erste gewesen war, der 1916 Bluttransfusionen an Patienten durchgeführt hatte, seine Forschungsarbeit jedoch unvermittelt
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