Zeitenlos
war die Wahrheit zu erfahren. Stattdessen endete das Ganze mit noch mehr Lügen, einem ertrinkenden Mädchen und Wes, der neben mir im Sterben lag. Und jetzt war ich auch noch auf der Flucht. Was zum Teufel dachte ich mir eigentlich dabei?
Ich warf einen wütenden Blick zu Wes hinüber und wartete auf weitere Anweisungen, die jedoch nicht kamen. Ich dachte an seine letzten Worte: »Alles wird gut« und »Vertrau mir«. Sie wirbelten durch meinen Kopf, ohne mich mit viel Zuversicht zu erfüllen. Ich fuhr langsam, als ob ein bisschen Rütteln ihm schaden könnte. Es war ziemlich albern, denn jeder normale Mensch würde in einem solchen Notfall Vollgas geben, während ich im Schneckentempo unterwegs war. Ein Teil von mir wollte ihn ins Krankenhaus bringen, der andere Teil hatte absolut keine Ahnung, was er tun sollte.
Ich malte mir jede Menge Gründe aus, warum jemand nicht medizinisch versorgt werden wollte. Vielleicht damit niemand seine Identität herausfand. Natürlich, das musste es sein. Es kam mir irgendwie bekannt vor. Ich erinnerte mich an all die Lügen und Widersprüche, in die er sich verstrickt hatte, als er mir von sich erzählt hatte. Mit einem Mal war die Wut wieder da, und ich warf ihm mit zusammengepressten Lippen einen Blick zu. Vielleicht sollte ich ihn einfach sterben lassen, dachte ich. Nein, das konnte ich nicht tun. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich würde ihn ganz bestimmt nicht absichtlich sterben lassen – und unabsichtlich auch nicht. Ich würde ihn nach Hause bringen und zumindest dafür sorgen, dass es ihm bald besser ging.
Jetzt, wo ich endlich wusste, was ich wollte, gab ich Gas. Dann fiel mir ein, dass er gesagt hatte, es würde ihm besser gehen, wenn er warm wurde, und drehte die Heizung hoch. Es schien zu funktionieren. Kaum begann die Heizung zu arbeiten, bewegte er sich ein bisschen, wenn auch mühsam. Er legte die Hände auf die Augen und murmelte etwas, das klang wie: »Zeit. Musst sie anhalten. Nein, die Zeit, halt sie an!« Das ergab zwar keinen Sinn, aber immerhin war es ein Lebenszeichen, sodass ich die Heizung noch höher drehte. Nach einigen Minuten kam ich mir vor wie in einem Backofen und kurbelte das Fenster herunter, weil ich frische Luft brauchte. Sein kurzzeitiges Gemurmel verstummte, da er wieder ohnmächtig wurde. Also machte ich mein Fenster wieder zu und ertrug die Hitze um seiner Gesundheit willen. Doch es half nichts. Er war bewusstlos und kam auf der verbleibenden Strecke auch nicht mehr zu sich.
Als ich auf seine Auffahrt abbog, wurde mir ganz übel beim Gedanken an die vielen Stufen, die zu seiner Haustür führten. Ich würde ihn unmöglich dort hochbekommen. Er musste es aus eigener Kraft schaffen. Ich schaltete den Motor aus, ging zu ihm rüber und öffnete die Tür.
»Wes«, flüsterte ich und beugte mich in den Wagen. Keine Antwort. »Wes!«, sagte ich lauter, doch keine Reaktion. Ich rüttelte an seinem Arm, um ihn aufzuwecken, aber er rührte sich immer noch nicht. Spontan legte ich die Hände an sein Gesicht. Es war kühl, aber längst nicht mehr so eiskalt wie auf dem Landungssteg. Es ging ihm eindeutig besser. Ich drehte sein Gesicht zu mir. »Wes? Wes! Bitte, du musst aufstehen.« Unwillig runzelte er die Stirn, und ich wusste, ich würde ihn niemals allein die Treppe hinaufbekommen.
Auf der Suche nach Alternativen sah ich mich um. Die Garage fiel mir ins Auge. Wenn ich dort hineinkäme, wären es nur wenige Stufen in die Küche, die er hoffentlich schaffen würde.
Ich suchte nach seinen Schlüsseln. Im Mantel waren sie nicht, aber in den Taschen seiner völlig durchnässten Hose wurde ich fündig. Ich rannte die Treppe nach oben, schloss die Haustür auf und öffnete die Garage von innen. Damit er nicht so weit laufen musste, fuhr ich den Jeep in die Garage. Im Vergleich zu den vollkommenen Oldtimern, die tief und fest unter ihren Hauben schliefen, wirkte mein Wagen kümmerlich, aber das war mir egal. An jedem anderen Tag hätte ich es nicht gewagt, meinen schmutzigen Jeep in der Garage zu parken, aber an diesem Abend verschwendete ich keinen Gedanken daran.
Als ich die Beifahrertür öffnete, war ich vom Treppensteigen und der Sorge um ihn völlig außer Atem. Was wiederum dazu führte, dass ich allmählich meine Geduld verlor. Ich sprach ihn nur noch zweimal an, bevor ich ihn am Kragen seines Jacketts packte und heftig schüttelte. »Weston!«, rief ich. Immer noch keine Reaktion. Ich rief wieder seinen Namen, und er zuckte zusammen.
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