Zeitenlos
…«
»Ich gehe rein«, sagte er und zog seinen Mantel aus. Ehe ich etwas sagen konnte, war er über das Geländer geklettert und verschwunden. Wir hörten das Klatschen kaum, sahen aber die kleinen Kringel an der Stelle, wo er auf dem Wasser aufgeprallt war.
»Ruft 911 an!« Fieberhaft suchte ich das Wasser mit den Augen nach irgendeinem Lebenszeichen ab und wurde von Schuldgefühlen geplagt, weil er meinetwegen hinuntergesprungen war.
»Achtung, da vorne!«, schrie jemand. Clay kam wieder an die Oberfläche.
»Ich kann sie nicht finden!«, brüllte er noch verzweifelter.
»Clay, warte!«, schrie ein Mädchen. »Da ist noch jemand unten, um dir zu helfen.«
Er tauchte wieder. Ich ließ meinen Blick suchend über das Wasser wandern und machte mir mit jeder Sekunde mehr Sorgen. Ein Augenblick oder zwei vergingen, und Clay kam erneut hoch. Wo war Wes? Ich presste beide Hände vor den Mund, und Tränen schossen mir in die Augen. Es war furchtbar. Viel zu viel Zeit war vergangen. Ich fing an zu weinen, und meine Hände zitterten unkontrolliert. Das Wasser war so dunkel, und nichts war zu sehen, abgesehen von Clay, der tauchte und wieder hochkam.
»Verdammt, Wes«, kreischte ich. »Komm schon!«
»Ihm geht’s bestimmt gut«, sagte ein Mädchen und strich mir über den Rücken. Ich schob sie weg. Keiner von uns wäre in diese Situation geraten, wenn ihre Freunde nicht so leichtsinnig gewesen wären. Das Geländer war nicht ohne Grund so hoch – eben damit solche Idioten nicht darüberkletterten. Ich hielt es nicht mehr länger aus, zog meinen Mantel aus und begann zu klettern.
»Das kannst du nicht machen«, sagte eine unbekannte Stimme. Ich ignorierte die Warnung. Zwar war mir klar, dass ich wahrscheinlich nicht viel ausrichten konnte, aber ich konnte auch nicht begreifen, dass jemand tatenlos dabei zusah, wenn andere Menschen in der Klemme steckten. Die beiden brauchten Hilfe, wie um Himmels willen konnte nur jemand hier oben herumstehen und einfach nur zusehen? Es war hirnrissig! Ich musste etwas tun. Ich stand schon auf der zweiten Stange, als jemand schrie: »Da! Da drüben! Seht!«
Mein Blick folgte dem ausgestreckten Finger.
»Da!«, rief ein Mädchen. »Er hat sie. Er hat sie gefunden!«
Meine Augen fixierten die Stelle, an der gerade jemand an die Oberfläche kam, und dann erkannte ich Wes’ hellen Pullover. Clay schwamm zu ihm hinüber, aber Wes schwamm bereits zügig Richtung Landungssteg. Wir rannten alle los und waren nach kurzer Zeit an der Stelle, wo er das Mädchen an Land zog. Wes legte sie auf den Rücken und begann sofort mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich ließ mich auf die Knie fallen und half ihm. Er beatmete sie, und ich machte die Herzmassage. Aus allen Richtungen waren Rufe und Schreie zu hören, als immer mehr Menschen angelaufen kamen. Clay hievte sich völlig erschöpft aus dem Wasser und kniete sich neben uns.
»Los, Lisa!«, sagte er. »Komm schon! Bitte!«
Je mehr Clay bettelte, desto schneller schien Wes zu werden, so schnell, dass ich kaum nachkam. Ich wollte mir von ihm weitere Anweisungen holen, doch dann bemerkte ich, dass er immer blasser wurde. Er sah nicht gut aus. »Wes.«
»Ich höre nicht auf. Sie schafft das«, sagte er, um mich anzufeuern.
Doch das meinte ich nicht. Ich machte mir seinetwegen Sorgen. Trotzdem machte ich weiter, bis meine Arme müde wurden. Ich wollte schon aufgeben, da spürte ich unter meiner Hand eine Bewegung. Ihr Oberkörper schoss ruckartig hoch, und Wes rollte sie schnell auf die Seite. Wasser lief aus ihrem Mund, sie begann unendlich viel davon zu erbrechen. Dann begann sie zu würgen, schließlich hustete sie. Clay schob mich zur Seite, um näher bei ihr zu sein.
»Lisa, Lisa! Oh Lisa, dir geht’s gut. Dir ist nichts passiert, Lisa. Alles wird gut.« Clay war erleichtert. »Danke«, sagte er, und es blieb offen, ob er sie meinte, oder Wes oder vielleicht Gott, wahrscheinlich alle drei. Ich war genauso erleichtert. Wes und ich hockten uns auf den Boden, und dann kippte Wes auf einmal um.
»Wes!«, schrie ich und kroch zu ihm.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte jemand, dem ebenfalls aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte. Wes nickte nur und schloss die Augen. Ich berührte ihn. Er war eiskalt.
»Er friert«, rief ich. »Holt seinen Mantel! Er liegt auf dem Landungssteg.« Rund ein halbes Dutzend Leute standen da, und alle starrten mich an. »Bitte!« Ich brüllte jetzt. »Er fühlt sich eiskalt an!« Eines der Mädchen drehte sich
Weitere Kostenlose Bücher