Zeitenlos
okay …«
Er fiel mir ins Wort »Was für ein Tag ist heute?«
»Sonntag.«
»Nein, welches Datum?« Er sah mich eindringlich an.
»15. November.«
»Welches Jahr?«, wollte er wissen.
»2009«, erwiderte ich, durch diese erneuten Wahnvorstellungen etwas aus der Fassung gebracht.
Er schloss die Augen und entspannte sich. »Es tut mir leid.«
»Kein Problem. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, aber du musst mir erlauben, dich zu untersuchen.«
Er ließ die Decke bis zur Hüfte fallen. Die Deutlichkeit seines schlanken Körperbaus lenkte mich ab. Um mich besser konzentrieren zu können, hätte ich am liebsten die Augen geschlossen, stattdessen suchte ich nach dem Thermometer.
»Was suchst du?«, wollte er wissen, wobei sein Blick fest auf mich gerichtet war.
»Das Thermometer.« Ich suchte weiter.
»Warum?«
»Ich will deine Temperatur messen.« Hätte ich diese rhetorische Frage wirklich beantworten sollen?
»Das ist nicht nötig.« Seine Stimme war ebenso leise wie zuversichtlich.
»Warum nicht?«
»Weil ich weiß, dass es etwa 26,7 Grad sein werden.«
»Wie bitte?« Meine Verwirrung wuchs. »Du glaubst, dass deine Körpertemperatur 26,7 Grad beträgt? In diesem Moment?«
Er nickte.
Ich suchte noch hektischer nach dem Thermometer. Kaum hatte ich es gefunden, hielt ich es zögernd an sein Ohr. Er wehrte sich nicht, also ließ ich es dort. Seine Temperatur betrug 26,8 Grad. Ich sah ihn an, und er erwiderte meinen Blick.
»Das verstehe ich nicht.«
Er wirkte verlegen. »Du wolltest die Wahrheit wissen.«
»Ja, das wollte ich«, erwiderte ich mit Nachdruck.
Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zuerst anziehe?«
Ja, hatte ich, denn ich wollte endlich verstehen, was hier vor sich ging. Gleichzeitig ließ mich aber meine Konzentration im Stich, als er dort mit bloßem Oberkörper und ohne Hose saß. Ich räusperte mich.
»Nein, natürlich nicht«, räumte ich ein, starrte ihn aber weiter an. Er sollte wissen, dass ich die Wahrheit erfahren wollte, sobald er sich etwas übergezogen hatte; er schuldete sie mir.
Sein Mundwinkel zuckte ganz leicht nach oben. »Okay«, sagte er und stand auf. »Ich bin sofort wieder da.«
Während er weg war, dachte ich darüber nach, was er gesagt hatte, und bemühte mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das war nicht ganz einfach. Aus Wes schlau zu werden war anstrengend. Meine Nerven waren Achterbahn gefahren, und mein Gehirn über Gebühr strapaziert. Ich lehnte den Kopf gegen das Sofa und schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte, mich zu entspannen. Ihm schien es besser zu gehen, und aus einem unerfindlichen Grund glaubte ich daran, dass er mir die Wahrheit sagen würde. Immerhin hatte ich ihm das Leben gerettet; es war also das Mindeste, was ich erwarten konnte.
Als Wes wieder nach unten kam, trug er einen schwarzen Kapuzenpulli und Jeans. Er musste in aller Eile geduscht haben, denn sein Haar war dunkel und nass. Als ich Anstalten machte aufzustehen, hielt er mir eine Hand hin. Ich ergriff sie, und er zog mich mühelos hoch, bis uns nur noch wenige Zentimeter trennten. Dabei sah er mich so durchdringend an, dass ich fühlen konnte, wie sich die Röte auf meinem Gesicht ausbreitete.
»Du bist im Schlafanzug«, stellte er lächelnd fest.
Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass ich tatsächlich noch meinen Pyjama trug. Wie peinlich!
»Ähm … ja, scheint so«, erwiderte ich verlegen.
»Warst du die ganze Nacht hier?«
Ich nickte beiläufig und antwortete: »Ich konnte dich schließlich nicht so ganz allein sterben lassen, oder? Irgendwer musste ja auf dich aufpassen.«
Er lächelte verstohlen. Mir war nicht klar, ob er mich absichtlich aus der Fassung bringen oder mich hinhalten wollte, beides wollte ich jedoch im Keim ersticken.
»Du schuldest mir die Wahrheit«, erinnerte ich ihn.
»Erst mal mache ich dir Frühstück. Du musst hungrig sein.«
»Ich will nichts essen. Ich will wissen, was los ist.«
»Bitte!«
Ich verdrehte die Augen. Er griff nach meiner Hand und zog mich Richtung Esszimmer. Dort drückte er mich auf einen Stuhl am oberen Ende des Tisches.
»Hier setzt du dich jetzt hin. Ich bin gleich wieder da. Dann können wir essen und reden.«
Müde und regungslos saß ich dort, doch bei der überwältigenden Aussicht, die man von hier aus hatte, war es schwer, diese Haltung beizubehalten. Es war einfach unmöglich, hier zu sitzen und nicht von einem Gefühl des Friedens
Weitere Kostenlose Bücher