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Zeitenlos

Zeitenlos

Titel: Zeitenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shelena Shorts
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zum Ende des Buches und nahm ein loses Foto heraus, das er mir gab. »Das bin ich mit Dr. Thomas 1939.«
    Es war ein sehr altes, aber gut erhaltenes Foto von Dr. Thomas, der den Arm um einen größeren Jungen gelegt hatte, der Wes sehr ähnlich sah. Die Frisur war anders, aber ansonsten sah der Junge auf dem Foto ganz genau wie Wes aus.
    »Das war unser letztes gemeinsames Foto«, sagte Wes. »Er wollte nicht, dass noch mehr Fotos gemacht werden, weil er Sorge hatte, dass jemand hinter mein Geheimnis kommen würde.«
    Mit der Fingerspitze fuhr ich das Gesicht des Jungen auf dem Foto nach.
    »Das Foto wurde auf dem Grundstück nicht weit von hier gemacht, wo Dr. Thomas später sein Haus gebaut hat. Wenn du heute dort hingehst, kannst du diese beiden Bergspitzen von der hinteren Veranda aus sehen.« Er deutete auf zwei markant geformte Erhebungen im Hintergrund. »Und wenn du vorne auf dem Hof stehst, kannst du diese Bäume sehen. Das Haus, das immer noch dort steht, hat er 1940 gebaut.« Er deutete auf die Stelle, wo die beiden standen.
    Wortlos gab ich ihm das Bild zurück. Er legte es vorsichtig zurück und stellte das Buch wieder ins Regal. Dann griff er nach einem zweiten Buch, einem Band mit Gedichten von Walt Whitman, aus dem er ein weiteres, abgegriffenes Foto herausnahm.
    »Das ist ein Foto von meiner Mutter und mir.« Er hielt es mir hin. »Es wurde vor der Buchhandlung in London gemacht, die ihr im Jahr 1915 gehörte.«
    Ich studierte das Foto und fühlte mich ganz klein angesichts seiner Geschichte. Die Frau auf dem Bild hatte ein ansteckendes Lachen. Der glückliche Eindruck, den sie machte, schien nahezu greifbar. Neben ihr stand ein weiteres Ebenbild von Wes. Frisur und Kleidung waren wieder anders, aber diese Augen und das Lächeln würde ich überall erkennen. Er war es, nur jünger. Es war tröstlich, dass die Frau neben ihm so offensichtlich stolz auf ihn war, aber es verstörte mich auch, dass dieselbe Person jetzt neben mir saß. Ich gab Wes das Foto zurück und stand auf, um zu gehen.
    »Wo gehst du hin?«, fragte er.
    »Ich muss nachdenken. Es ist nicht so, dass ich dir nicht glaube, aber ich brauche Zeit, um das alles zu verdauen.«
    Er nickte verständnisvoll und schloss das Buch. »Sophie?«, rief er mir hinterher.
    Ich drehte mich um.
    »Niemand sonst weiß etwas von dem, was ich dir erzählt habe … Wenn du deshalb bitte …«
    »Ach, Wes«, sagte ich bedrückt. »Du musst dir keine Sorgen machen. Selbst wenn ich jemandem davon erzählen würde, würde mir niemand glauben.«
    »Das ist nur bedingt richtig«, berichtigte er. »Da draußen sind Menschen, die nur zu gerne versuchen würden, das Geheimnis zu lüften, das mein Onkel hinterlassen hat. Wenn sie wüssten, dass es mich gibt …«
    »Okay, schon kapiert. Ich werde nichts sagen.« Und mit diesem Versprechen räumte ich ein, dass er tatsächlich die Wahrheit gesagt haben könnte. Die einzige offene Frage war, wie ich damit umgehen würde. Und klar war auch, dass ich dieses Problem hier und jetzt nicht lösen konnte. Ich musste erst mal allein sein.

Kapitel 9
    Bewältigung
    G egen zehn Uhr abends stand für mich fest, dass ich Wes wiedersehen wollte. Ich hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht, was er mir erzählt hatte. Wenn das alles stimmte, gab es die Welt, wie ich sie kannte, im Prinzip nicht mehr. Ich musste mich entscheiden, was ich glauben wollte.
    Bis zu unserem Umzug nach Kalifornien war alles so verlaufen, wie meine Mutter es geplant hatte, und ich hatte mich dabei immer überflüssig gefühlt. Aber aus irgendeinem Grund war der letzte Umzug auch für mich richtig gewesen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, hierher zu gehören. Ich war davon überzeugt, dass Kalifornien mich glücklich machte, weil ich mich dort zu Hause fühlte, aber seit ich Wes kannte, wusste ich, dass es etwas anderes war.
    Glücklich zu sein war für mich immer gleichbedeutend mit Zufriedenheit gewesen. Sich gut zu fühlen, keine Probleme zu haben. Aber als ich Wes kennenlernte, begriff ich, dass glücklich sein so viel mehr bedeuten konnte – ein Gefühl, das von innen kommt. Schmetterlinge im Bauch, ein bleibendes Lächeln, etwas, das süchtig macht und von dem man mehr haben möchte. Nichts, über das man nachdenkt, sondern etwas, das man fühlt.
    Ich war immer ein Kopfmensch gewesen, der Glück und Freude in Gedanken und Ideen suchte. Erst jetzt begann ich zu erkennen, dass Glück aus dem Herzen kommt, und an jenem Abend sprach mein Herz mit

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