Zeitenzauber: Das verborgene Tor. Band 3 (German Edition)
Sie das neue Bild sehen. Er meinte, Ihr Leben könne davon abhängen.«
»Sagte er auch, warum?« Sebastianos Stimme klang ruhig, doch ich bemerkte seine Anspannung.
»Ja, er erklärte, er habe eine Vision gehabt. Eine so klare und eindeutige wie noch nie zuvor.«
Ich wagte kaum zu atmen. Bisher hatte Mr Turner mit seinen Visionen erschreckend richtig gelegen. Was sein neues Bild wohl zeigen mochte? Während ich anfing, mir ziemlich gruselige Motive auszumalen (unter anderem einen mit hornigen Auswüchsen übersäten Jabberwocky, der geifernd auf mich zugestapft kam), meinte Sebastiano entschlossen: »Wir werden noch heute mit ihm sprechen.«
»Das ist zu gefährlich!«, wandte ich ein. »Sein Haus steht bestimmt unter Beobachtung! Du hast es selbst gesagt!«
»Ich überlege mir noch was.« Sebastiano wandte sich an Mr Scott. »Ich denke, wir haben alles Wichtige besprochen. Sie sollten uns jetzt zu unserer Unterkunft bringen, wo immer diese auch ist.«
Mr Scott gab dem Kutscher ein Klopfzeichen. Wir fuhren noch eine Weile, und ich lugte zwischendurch vorsichtig aus dem Fenster, um nachzuschauen, wo wir waren. Wegen des Nebels war jedoch kaum etwas zu sehen. Erst, als ich die London Bridge aus den grauen Schwaden auftauchen sah, erkannte ich unsere Umgebung wieder. Die Kutsche hielt in der Nähe des Flusses vor einem schmalbrüstigen Haus mit einem altertümlichen Giebel, über dem ein verrußter Schornstein aufragte.
»Hier wohnt eine Witwe namens Blair. Sie hält Kost und Logis für Sie bereit und wird keine Fragen stellen. Um den Hund wird sie sich ebenfalls kümmern, wenn Sie es möchten. Morgen Mittag um Punkt zwölf wird jemand kommen und Sie zum nächsten Standort bringen. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald ich Neues weiß. Sollten Sie eine Nachricht für mich haben, schicken Sie mir mit der Penny Post einfach einen leeren Zettel, dann werde ich sofort zu Ihrer jeweiligen Unterkunft kommen.«
»Das ist ja wie in einem Thriller«, flüsterte ich Sebastiano zu, nachdem wir beide mitsamt Hundekorb und unseren übrigen Siebensachen ausgestiegen waren. Wir winkten Mr Scott zum Abschied, bevor die Kutsche davonrumpelte und im dicken Nebel verschwand.
Mrs Blair war tatsächlich sehr verschwiegen, genau genommen sprach sie kein einziges Wort. Sie war um die fünfzig und sah so ähnlich aus wie meine letzte Biolehrerin. Alles an ihr wirkte irgendwie streng, von dem festen Nackenknoten über das energische Kinn bis hin zu ihren durchdringenden Augen. Stumm führte sie uns die Treppe hoch, zu einem kleinen, aber sauberen Zimmer, in dem es an Mobiliar nichts gab außer zwei spartanisch schmalen Betten und einer Kommode. Auf der stand ein Tablett mit Obst, Brot und Käse sowie einer Karaffe Wasser. Kost und Logis in einem. Mrs Blair verschwand ohne einen einzigen Ton wieder nach unten.
»Die macht ja wirklich nicht viele Worte.« Ich nahm mir einen Apfel und biss hinein. »Ich glaube, ich gehe erst mal mit Sisyphus Gassi.« Der kleine Kerl hatte fast die ganze Fahrt über geschlafen, doch jetzt kletterte er unternehmungslustig aus seinem Körbchen und kratzte an der Tür. Er wollte raus.
»Überlass das lieber Mrs Blair. Sie muss auf Sisyphus aufpassen, denn wir haben eine wichtige Verabredung. Oder genauer, wir werden eine haben, sobald ich einen Boten in die Harley Street geschickt habe.«
»Oh. Du hast dir schon was wegen Mr Turner überlegt? Wo wollen wir ihn treffen?«
»Lass dich überraschen.«
»O mein Gott!« Entsetzt sah ich mich um. »Das ist ja furchtbar!«
»Mir fiel nichts Besseres ein.« Sebastiano wirkte betroffen, anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass hier solche Zustände herrschten. Die übrigen Zuschauer, von denen es eine Menge gab, schienen sich nicht daran zu stören, aber ich fand es abstoßend.
Die Menagerie von Exeter Change lag im Stadtteil Strand im Norden von London. Im Obergeschoss eines klobigen Gebäudes waren diverse wilde Tiere untergebracht, doch von artgerechter Haltung konnte leider keine Rede sein. Willkürlich durcheinandergewürfelt reihten die Käfige sich aneinander oder sogar übereinander: Über den Löwen hausten die Affen, gegenüber hockten bunt schillernde Papageien, und am Ende des Ganges warf ein angeketteter Elefant hinter schweren Gitterstäben trostlos den gewaltigen Kopf hin und her. Der Lärm war unbeschreiblich. Die großen Raubkatzen brüllten, der Elefant rasselte mit den Ketten, die Papageien krakeelten, und die Affen sprangen
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