Zeitenzauber: Das verborgene Tor. Band 3 (German Edition)
auffällig war, also hatte ich es gut versteckt. Das dachte ich jedenfalls – bis Vanessa auf der großen Party, die wir letztes Jahr zusammen zu unserem 20. Geburtstag veranstaltet hatten, Eiswürfel aus dem Gefrierfach holen wollte. Da war ihr dann die blinkende Pracht in die Hände gefallen, und ich hatte ihr notgedrungen ein paar Erklärungen liefern müssen.
»Vielleicht sollte ich José wirklich mal fragen, ob sie mitmachen kann«, sagte ich. »Du bist schließlich damals auch durch einen Freund an den Zeitwächter-Job gekommen.«
Pling. Noch eine Nachricht von Vanessa.
Aber eigentlich hab ich gar keine Zeit, denn übermorgen will Manuel nach Ibiza. Seine Eltern haben da ein Ferienhaus. Wenn ich nicht mitfahre, wird er wieder eine Woche nicht mit mir reden. Ich bin sowieso schon so fertig. Hab ich dir schon erzählt, dass ich durch die Zwischenprüfung gefallen bin?
»Damit hat es sich wohl erledigt«, sagte Sebastiano.
Ich schrieb Vanessa was Nettes zurück und tröstete sie wegen der vergeigten Zwischenprüfung. Zum Glück konnte sie die wiederholen. Falls sie das überhaupt wollte. Sie hatte schon ein paarmal angedeutet, dass sie mit Jura vielleicht danebengegriffen hatte und eventuell lieber auf irgendwas mit Kunst oder Mode umschwenken wollte.
Der Kellner brachte eine zweite Runde Guinness, aber ich machte nach einem halben Glas schlapp und kam aus dem Gähnen nicht mehr heraus. Sebastiano zahlte, und wir spazierten durch die laue Sommernacht zurück zum Hotel. Überall brauste der Verkehr, es war fast so viel los wie tagsüber. Man musste höllisch aufpassen, weil die Autos alle von rechts angeschossen kamen statt von links. Riesige aufgemalte Pfeile auf der Fahrbahn – wahrscheinlich extra für Touristen angebracht – stellten klar, wohin man schauen musste, bevor man sich rüber traute.
Wir gingen eng umschlungen, und genauso schliefen wir später auch ein. Ich hatte den Kopf auf Sebastianos Brust gebettet und hörte seinen Herzschlag. In diesem Augenblick war ich wunschlos glücklich.
Im Traum fiel ich durch einen dunklen Schacht in die Tiefe. Nicht schnell wie ein Stein, sondern langsam, wie ein wirbelndes Blatt, hin und her geworfen von Strömungen, die ich nicht kontrollieren konnte. Ich wusste, dass dies nicht die Realität war; trotzdem spürte ich die Kälte, die mich von allen Seiten umgab, ebenso wie die furchterregende Unendlichkeit, der ich entgegenfiel. Es war ein bisschen wie der Sturz bei Alice im Wunderland, nur dass dort unten keine Märchenwelt auf mich wartete, sondern etwas viel Schlimmeres. Etwas Dunkles und Böses, das keine feste Gestalt hatte, aber trotzdem Klauen und Hörner und spitze Zähne und einen peitschenden Schweif. Nicht dass ich etwas davon sehen konnte. Ich war von einer Art intuitivem Wissen erfüllt, dass ein solches Wesen in den Abgründen der Zeit existierte, und wenn ich nur lange genug weiterfiel, würde ich ihm begegnen.
Ich kam ihm bereits näher, das merkte ich, ohne sagen zu können, warum. Eine furchtbare Angst erfasste mich und drückte mir den Brustkorb zusammen, ich konnte nicht mehr atmen. Keuchend kam ich zu mir und schnappte wie eine Ertrinkende nach Luft. Sebastiano umarmte mich.
»Anna?«
»Alles okay«, stieß ich hervor, wie um mich selbst zu beruhigen.
»Lieber Himmel, du zitterst ja!«
»Ein blöder Albtraum.«
»Wovon denn?«
»Weiß nicht. Irgendwas Böses aus Alice im Wunderland.«
»Die Herzkönigin?«
»Nein, eher so was wie der Jabberwocky.«
»Das Gruselmonster aus dem Film? Hast du es im Traum getroffen?«
»Nicht richtig, es war mehr so ein Gefühl.«
»Dem Biest hättest du bestimmt gezeigt, wo’s langgeht«, meinte Sebastiano mit leiser Belustigung.
»Bestimmt.« Ich schmiegte mich an ihn, sein warmer Körper fühlte sich stark und tröstlich an, doch mein Herz klopfte immer noch wie wild. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte.
Am nächsten Morgen machten wir uns gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um so viel wie möglich von London zu sehen, bevor José zurückkam. Die beiden folgenden Tage waren randvoll mit Unternehmungen, aber ich genoss jede Minute.
Wir waren von früh bis spät unterwegs. Dabei gingen wir abwechselnd zu Fuß, nahmen die U-Bahn oder fuhren mit einem der vielen roten Doppeldeckerbusse. Big Ben, Tower, Piccadilly Circus, Covent Garden, Harrod’s (unfassbar, wie viele Luxusartikel, die mehr als zehntausend Pfund kosteten, in ein einziges Kaufhaus passten!). Und
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