Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Delikatessenladen. Stöhnend vor Behagen schob ich ein paar Oliven hinterher und krönte die Mahlzeit anschließend damit, dass ich den Rest vom Brot in den Honig tunkte und alles bis auf den letzten Krümel aufaß.
Zum Trinken gab es eine Art Weinschorle in einem kostbaren Glasbecher. Ich fand, dass es einfaches Wasser auch getan hätte. Von Clarissa wusste ich, dass die höheren Herrschaften sich ihr Trinkwasser schon zum Frühstück mit Wein verfeinerten. Mein Fall war das nicht, aber ich war zu durstig, um es zu verschmähen.
Die Frauen kehrten zurück und brachten frische Kleidung und Wasser zum Waschen. Die eine legte die Sachen zum Anziehen bereit, die andere goss aus dem mitgebrachten Krug angewärmtes Wasser in eine große Schüssel, bevor sie Seife, Kamm und frische Leinentücher danebenlegte. Anschließend blieben beide erwartungsvoll stehen.
Mir war sofort klar, was sie wollten.
Ich räusperte mich bedauernd. »Momentan habe ich kein Geld dabei«, sagte ich. »Aber bald treffe ich jemanden, der gut bei Kasse ist, dann hole ich das nach, versprochen.«
Die beiden sahen einander an und kicherten, bevor die eine freundlich meinte: »Nicht doch, Madonna. Wir sind hier, um Euch beim Waschen, Frisieren und Ankleiden zu helfen.«
Das Missverständnis war mir peinlich, aber noch peinlicher wäre es gewesen, mir von zwei Frauen beim Anziehen helfen zu lassen, als wäre ich ein Kleinkind. Deshalb lehnte ich das Angebot höflich, aber entschieden ab.
Die beiden wirkten leicht irritiert, zogen dann aber ohne Widerrede ab. Draußen hörte ich sie abermals kichern und weil ich wissen wollte, was es zu lachen gab, eilte ich zur Tür und lauschte.
»Manche von den Neuen brauchen eine Weile«, sagte die eine.
»Ja, aber auch die lernen schnell, den Luxus zu lieben«, erwiderte die andere. »Für das, was sie dafür von den Männern ertragen müssen, ist das allerdings nur ein kleiner Ausgleich.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Wären wir jung und schön, würden wir es mit Freuden aushalten.«
»Du vielleicht, ich gewiss nicht. Mir sind mein Seelenheil und meine Gesundheit lieber.«
Die Stimmen wurden leiser, die Frauen entfernten sich.
Befremdet ging ich zu der Waschschüssel und zog mein Hemd aus. Das Wasser war angenehm warm und die Seife duftete mindestens so gut wie die Stücke von der teuren Sorte, die Matilda an betuchtere Kunden verkaufte, doch meine Gedanken kreisten ausschließlich um die Frage, wo ich hier gelandet war. In der Zeit zwischen Aufwachen und Aufstehen hatte ich mir noch mit viel Fantasie einbilden können, bei mir zu Hause zu sein und gleich zur Schule zu müssen. Doch mittlerweile war dieser Tagtraum abgehakt.
Zur Schule ging hier sowieso niemand, denn es gab keine, das hatte ich in den beiden Wochen meines Hierseins bereits in Erfahrung gebracht. Wer reich genug war, engagierte einen Hauslehrer, aber nur für die Söhne.
Mädchen in meinem Alter waren für gewöhnlich verheiratet und oft sogar schon Mutter oder irgendwo als Dienerin oder Magd oder billige Hilfskraft beschäftigt. Viele wurden auch ins Kloster gesteckt, ob sie wollten oder nicht.
Von einer Berufsausbildung konnte ein Mädchen in diesem Jahrhundert nur träumen. Mit etwas Glück konnten Frauen einen eigenen Laden führen wie Matilda. Aber das war die Ausnahme.
Einen weitverbreiteten und gut bezahlten Frauenjob gab es trotzdem. Von den Frauen, die damit ihr Geld verdienten, hatte ich schon einige in Matildas Laden gesehen. Oft kauften sie Duftöle, Bleiweiß zum Schminken oder Kräutermischungen, die dabei helfen sollten, dass sie ihre Tage bekamen.
Clarissa hatte mir erzählt, es gebe mehr von ihnen in Venedig, als ein Mensch zählen könne. Manche, so hatte sie berichtet, lebten mehr oder weniger auf der Straße und von der Hand in den Mund, aber andere führten ein richtiges Luxusleben in edlen Häusern, mit Dienerschaft, kostbaren Kleidern und auch sonst allem Komfort.
Damit hatte ich einmal im Kreis herumgedacht und kam wieder zu meiner Ausgangsfrage zurück. Wo war ich hier?
Ich war fertig mit Waschen und Kämmen und begutachtete die bereitliegende Kleidung. Das Unterkleid war aus feinster Baumwolle und strahlend weiß. Das Oberkleid, die Gamurra , bestand aus himmelblauem Samt, mit eingearbeiteten Brokatbordüren rund um den Ausschnitt. Dazu gab es seidene Strümpfe, die mit Bändern über dem Knie zugebunden wurden. Die Frauen hatten mir sogar neue Schuhe mitgebracht, eine Art Pantöffelchen, die
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