Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
soll?«
»Gleich. Lass uns erst mal losfahren.«
Sebastiano stieß die Gondel von der Anlegestelle weg und begann zu rudern. Mir entging nicht, wie gut er das beherrschte. Breitbeinig stand er auf der Bootsabdeckung und zog das lange Ruder geschickt durchs Wasser. Wir nahmen rasch Fahrt auf und wurden schneller. Die Gondel glitt über den Canal Grande, vorbei an den prächtigen Palazzi des fünfzehnten Jahrhunderts. Sie sahen ganz anders aus als in der Zukunft, denn die Fassaden waren nicht beige oder ockerfarben wie in meiner Zeit, sondern großflächig mit farbenfrohen Fresken bemalt. Über den Dächern ragten unzählige Schornsteine auf, die wie umgedrehte Kegel aussahen.
Inzwischen waren wir lange genug unterwegs. Niemand konnte uns mehr belauschen. Ich platzte mit der wichtigsten Frage heraus.
»Diese Marietta – ist sie eine …«
Sebastiano hob eine Augenbraue. »Kurtisane?«
Ich nickte errötend. Er nickte ebenfalls.
»Ach so«, sagte ich betont gleichmütig.
Sebastiano lächelte. »Hast du ein Problem damit?«
»Wie kommst du darauf? Ich habe überhaupt nichts gegen Minderheiten!« Ich hielt inne. »Obwohl von Minderheit ja eigentlich nicht die Rede sein kann. Ich hörte, es seien Tausende.«
Sebastiano lachte. »Ich habe sie nicht gezählt. Kurtisanen sind hier übrigens wesentlich angesehener als in der Zukunft, viele von ihnen sind absolut gesellschaftsfähig. Man könnte sagen, sie sind die Supermodels des fünfzehnten Jahrhunderts. Marietta beispielsweise gilt als richtiger Star.«
Ich rang mich zur nächsten wichtigen Frage durch. »Woher kennst du sie?«
Er zuckte die Achseln. »Bei meinem Job lernt man viele Leute kennen. Sie ist eine gute alte Freundin und immer sehr hilfsbereit.«
Alt fand ich sie wirklich nicht und umso mehr hätte es mich interessiert, was genau er mit hilfsbereit und Freundin meinte. Doch ich hatte noch Josés Vorurteil über die Neugier der Frauen im Ohr. Das würde ich nur untermauern, wenn ich jetzt damit fortfuhr, Sebastiano über Marietta auszufragen. Diese Blöße würde ich mir nicht geben.
Was mich aber nicht daran hindern würde, Fakten herauszufinden, die mir halfen, nach Hause zu kommen.
»Aus welchem Jahr stammst du?«, wollte ich wissen.
»Aus demselben wie du.«
Das hatte ich nach der Unterhaltung, die er vorhin mit José geführt hatte, bereits vermutet. Dennoch war ich ein wenig enttäuscht. Ich hätte es unglaublich aufregend gefunden, wenn er tatsächlich aus meiner Zukunft gekommen wäre.
»Was ist mit der Sperre? Für dich gilt sie überhaupt nicht, oder?«
»Das hast du dir schon wieder falsch zusammengereimt«, belehrte Sebastiano mich. »Bei mir läuft es genauso wie bei dir. Es ist eine Art physikalisches Grundgesetz für Zeitreisende. Man kann Leuten aus der Vergangenheit nichts über die Zukunft erzählen.«
»Aber du kannst mir alles erzählen!«, sagte ich triumphierend. »Weil wir aus derselben Zeit sind!«
»Das könnte ich«, räumte er ein.
»Dann tu es endlich! Ich will alles wissen! Wie du an den Job gekommen bist. Wem die rote Gondel gehört und wo sie jetzt ist. Und welche Mission du hier hast.«
»Es könnte schädlich sein, wenn du zu viel erfährst. Je weniger du weißt, desto weniger kannst du im Ernstfall an Dritte verraten.«
»Das könnte ich wegen der Sperre doch sowieso nicht.«
»Ich rede hier von Dritten, die aus unserer Zeit kommen. Sie könnten dich schnappen und alles aus dir herausquetschen, was sie wissen wollen.«
Ein Frösteln überlief mich, denn unvermittelt erinnerte ich mich daran, wie Alvise mich vorhin angesehen hatte. Wie seine Augen geglitzert hatten, als er meinen Arm gestreichelt hatte. Und wie er in der Zukunft mit dem Messer auf Sebastiano losgegangen war.
»Mit Dritten meinst du die Malipieros, oder?«, fragte ich. »Dieser Alvise – er war auch in der Zukunft. Er muss also von dort stammen. Oder können auch Leute, die aus der Vergangenheit stammen, in die Zukunft reisen?«
»Soweit ich weiß, nicht. Alvise kommt aus unserer Zeit.«
»Was hast du mit ihm zu schaffen? Und was genau hat er hier vor?«
»Mit ihm befassen wir uns, wenn es so weit ist. Im Moment ist es besser, wenn du nicht zu viel über die Malipieros weißt.«
Ich wollte aufbegehren, entschied dann aber widerstrebend, vorläufig auf andere Fragen auszuweichen.
»In welcher Stadt bist du eigentlich geboren?«
»In Venedig«, sagte er lächelnd. »Ich lebe und studiere hier.«
»Ach«, sagte ich, ziemlich
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