Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Jahrhundert nicht überall so ungemütlich wie bei Matilda.
Das schwache Bimmeln einer Schiffsglocke, die von irgendwoher herüberklang, begleitete mich in den Schlaf.
Als ich aufwachte, war es heller Tag. Die Fensterläden waren zwar zugeklappt, aber durch die Ritzen fielen Sonnenstrahlen ins Zimmer.
Einige schläfrige Sekunden lang stellte ich mir vor, ich sei zu Hause. Papa sang unter der Dusche und gleich würde Mama hereinplatzen und laut verkünden, dass der Schulbus in genau fünf Minuten käme. Dann wäre es wirklich Zeit zum Aufstehen. Der Bus käme zwar erst in fünfzehn Minuten, Mama übertrieb in dem Punkt gerne, aber auch dann blieb kaum genug Zeit, mich zum Abmarsch fertig zu machen. Duschen und Haarewaschen erledigte ich deshalb immer schon am Vorabend, weil ich genau wusste, dass es nach dem Aufstehen gerade noch zum Anziehen und Zähneputzen reichte.
Bei Matilda war es morgens ähnlich hektisch zugegangen, nur dass da kein Wecker geklingelt hatte, sondern das weithin hallende Morgenläuten aus allen umliegenden Glockentürmen jede Menschenseele hochscheuchte. Sprangen Clarissa und ich dann nicht innerhalb einer Minute aus dem Bett, konnten wir sicher sein, dass Matilda ins Zimmer stürmte und uns mit ihrem Gezeter Beine machte.
Danach musste es mit dem Anziehen und Kämmen schnell gehen, weil die Arbeit wartete. Solche Feinheiten wie Zähneputzen mussten zusammen mit der restlichen Körperpflege auf später verschoben werden.
Immerhin kannte man das Zähneputzen in diesem Jahrhundert schon, man benutzte dafür faserige Holzstückchen und Minzblätter. Sofern man gerade Zeit hatte. Sehr viele Leute hatten vermutlich keine, denn sobald sie den Mund aufmachten, offenbarte sich das kariöse Grauen. Zahnärzte gab es nicht, bloß sogenannte Bader. Musste man die erst aufsuchen, war alles zu spät, denn ihre Spezialität bestand im Herausreißen von Zähnen. Clarissa hatte mir geschildert, wie solche Eingriffe vonstattengingen. Zwei Mann hielten das Opfer fest, während der Bader es mit der Zange traktierte.
Ein paar dieser Patienten hatte ich schon kennengelernt. Zuerst hatten sie sich in der Kräuterhandlung Mittel gegen das Zahnweh gekauft und als die nichts halfen, waren sie notgedrungen zum Bader marschiert. Hinterher waren sie mit scheußlich geschwollenen Backen wieder in den Laden gekommen, weil sie ein Mittel gegen den Wundschmerz benötigten.
Während ich über die Zahnhygiene in diesem Jahrhundert nachsann, blieb ich dösend im Bett liegen. Es tat gut, nach dem Aufwachen nicht sofort aufspringen zu müssen.
Irgendwann jedoch meldete sich ein menschliches Bedürfnis. Ich benutzte den Nachttopf und beschloss, bei nächster Gelegenheit herauszufinden, wo sich hier der Abtritt befand. Doch kaum hatte ich mir das vorgenommen, als es klopfte und eine Frau ins Zimmer kam, die einen Knicks vor mir machte, den Nachttopf aus dem Stuhl nahm und damit verschwand. Irritiert blieb ich stehen und schaute ihr nach. Gleich darauf kam eine weitere Frau, die wie die erste eine Schürze und eine Haube trug. Sie öffnete die Läden und fing dann an, das Federbett aufzuschütteln. Während sie noch damit beschäftigt war, kam die andere Frau zurück. Sie trug ein Tablett, das sie auf dem lackierten Tischchen vor dem Kamin abstellte. »Euer Morgenmahl, Madonna«, sagte sie höflich.
»Äh … danke«, sagte ich perplex. Ein rascher Blick auf den Teller zeigte, dass meine Nase mich nicht getrogen hatte. Rührei mit gebratenem Schinken! Und daneben lag auf einem Brett frisches Weißbrot, das noch vom Backen dampfte. Außerdem gab es goldgelben Käse, eingelegte Oliven und ein Schälchen mit Honig.
Die Frau rückte mir einen Stuhl zurecht und knickste. »Ist alles nach Euren Wünschen, Madonna?«
Ich wollte ihr mitteilen, dass ich eigentlich bloß Anna hieß und daran gewöhnt war, den Nachttopf selbst auszuleeren, doch ich war so überwältigt, dass ich keinen Ton herausbrachte. Stattdessen nickte ich nur zustimmend und ließ mich auf den Stuhl sinken. Mit einem Mal merkte ich, welchen Hunger ich hatte. Niemand musste mich auffordern, mit dem Essen anzufangen, zumal es ganz danach aussah, als wäre alles für mich allein.
Ich griff zum Löffel – Gabeln hatte ich in diesem Jahrhundert noch nicht gesehen – und schaufelte das Rührei in mich hinein. Es schmeckte köstlich. Zwischendurch biss ich von dem Brot ab, das innen wunderbar luftig und außen kross war. Auch der Käse schmeckte wie aus dem
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