Zeitfinsternis
aber ich glaubte es nicht so recht. Wie auch immer, ich hatte nichts zu verbergen – und sicher auch keiner von denen, die noch übrig waren; alle anderen wären sonst schon lange weg gewesen. Wie aber war es dem Ersten möglich, uns alle und so viele Schirme im Auge zu behalten? Ganz einfach: Es war ihm nicht möglich. Vielleicht nahm er nur Stichproben vor, um zu überprüfen, ob wir nicht bei der Arbeit schliefen. Es war nicht schwer einzuschlafen, und es ist sogar möglich, daß ich meine Augen geschlossen hatte, als der Summer ertönte und mein Name genannt wurde.
„Ja?“
Es war mehr als ein Jahr her, seit Erster mich das letzte Mal angesprochen hatte. Ich hatte die ganze Zeit mein Bestes getan, um es zu vergessen, aber die Situation in diesem Moment rief es mir sofort wieder in mein Gedächtnis zurück. Was gab es jetzt?
„Sie wissen von der Schlacht zwischen Lothringen und Saarland?“
„Ja“, sagte ich und fragte mich, ob er möglicherweise annahm, daß ich davon nichts wußte. Jeder wußte davon, und ich hatte sogar mit Sonya ein paar Worte darüber gewechselt. Ich nahm an, daß er jetzt etwas über die Androiden sagen würde und darüber, wo sie hergekommen waren – ich wußte, daß ein Auftrag, der in diese Richtung ging, eine Möglichkeit war, wieder zu Ansehen zu kommen –, aber ich täuschte mich.
„Ich möchte, daß Sie jemanden für mich finden“, sprach Erster weiter und bewegte sich etwas von dem Thema weg. „Es gibt da eine junge Frau aus dem Dorf Blancz, die von Napoleons Leuten entführt worden ist. Bringen Sie sie zu mir.“
„Ja“, sagte ich ein drittes Mal, aber Erster war schon fort.
Das war typisch. Man bekam nur die allerknappsten Informationen und Anweisungen, aber das ließ auf der anderen Seite dem einzelnen weit mehr Spielraum. Es hatte den Anschein, als sei das, was er sagte, unwichtig und belanglos, etwas, was man genausogut noch in der nächsten Wochen oder im nächsten Monat erledigen konnte. Aber wenn er es einem befahl, dann machte man es.
Ich konnte nicht mitten in der Schicht weggehen, aber das wollte ich auch nicht. Bevor ich zur Oberfläche hochging, gab es noch eine Menge zu tun. Und je länger ich jetzt noch hier unten blieb, desto schneller konnte ich den Auftrag oben erledigen und dem Ersten seine Junge Frau’ bringen.
Ich warf noch einen schnellen Blick auf die anderen Schirme und stellte dann eine Verbindung zum Nachrichtennetz her. Ich verlangte das Archiv.
Ich stand wieder auf der Leiter – zur Oberfläche und vom Beobachter zum Wächter.
Wenn es keine Türe gibt, dann ist er ein Gefangener. Vielleicht, so denkt Erster, ist er sogar in einer Art Heilanstalt für Geisteskranke, wie es sie früher gab. Er hat keine Möglichkeit, seine Theorie zu widerlegen… oder sie zu bestätigen. Das scheint ihm aber trotzdem irgendwie nicht richtig zu sein, und er hält es für mehr als wahrscheinlich, daß er tatsächlich Erster Wächter ist. Aber er hat keine Möglichkeit, das herauszufinden, und er wünscht, daß er Zugang zu Informationen haben könnte, die in einem Bezug dazu stehen, wie er an die Macht gekommen ist. M ASCHINES Bericht darüber, was geschehen ist, ist so knapp gehalten, daß er fast wertlos ist. Kann er sich darauf verlassen, was sie sagt, oder lügt sie ihn an? Möglicherweise ist er schon seit mehr als zehn Jahren ,Erster Wächter’ – oder erst seit sehr viel kürzerer Zeit. Er weiß es nicht; es gibt soviel, was er nicht weiß.
M ASCHINE behauptet, sie habe ihm von Fells Tod und der Affen-Invasion in Attilas XXI. Schlafzimmer berichtet. Ersteres war zweifellos sehr wichtig, aber wie verhielt es sich mit letzterem? Für gewöhnlich wiederholt M ASCHINE Ereignisse aus der Zukunft nur dann für ihn, wenn sie besonders wichtig sind, weil sonst sein Geist mit zu vielen unwichtigen Details überladen würde. Erster weiß das nicht sicher, aber er nimmt an, daß es so ist. Es kommt immer noch vor, daß ein Beobachter etwas Unerwartetes berichtet, aber M ASCHINE sagt dann: „Es wurde erwartet“, und Erster ist zufrieden.
Es wird ihm klar, daß er jedesmal, wenn sein Geist aus der Zukunft zurückkehrt, M ASCHINE mehrere Nachrichten überbringt, und es sieht so aus, als würde er nie etwas davon vergessen, bevor er es M ASCHINE berichten kann. M ASCHINE erwartet immer, was geschieht. Unter diesen Umständen reicht das Gedächtnis des Ersten einige subjektive Stunden lang, denn wenn er aufwacht, berichtet M ASCHINE ihm, was
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