Zeitfinsternis
Wäre es da nicht leichter, einen dienstbaren Geist aus der Erde heraufzubeschwören, der ihn vom Pferd herabzerren und ihm die Kehle durchschneiden würde? Der junge Ritter rieb seinen Hals und betastete seinen Adamsapfel, der beim Schlucken hochstieg. Wahrscheinlich wollten sie ihn nicht umbringen. Im Augenblick nicht. Sie warteten darauf herauszufinden, wozu er gekommen war und was er tun würde. Und vielleicht wußten sie doch nicht, daß er da war. Sie konnten etwas nur sehen, wenn sie hinschauten, und vielleicht schaute niemand hin.
Er fragte sich, ob er die Frau je finden würde. Vielleicht würde er ja jemanden treffen, den er fragen konnte, ohne sich zu verraten.
Was hätte er an ihrer Stelle getan? Er wußte es nicht. Es war ihm unmöglich, sich an ihre Stelle zu versetzen, da in seinem Bild von ihr zu viele leere Stellen waren – eigentlich bestand es hauptsächlich aus leeren Stellen. Wie aber hätte er sich verhalten, wenn er einer von den flämischen Soldaten wäre, die sie entführt hatten (dabei mußte er von der Voraussetzung ausgehen, daß es sich so abgespielt hatte)? Diese Frage war bei weitem nicht so schwierig zu beantworten; theoretisch, wenn auch nicht praktisch, wußte er die Antwort.
Ich wurde von meinem mottenzerfressenen Klepper durchgeschüttelt, markierte dabei mühsam ein Kreuz in meinem Koordinatensystem und zog dann eine Verbindungslinie zu der Stelle, an der von Angel nach Flandern verschwunden war. Ich konnte dabei meine künstlerischen Talente voll ausleben, und bald war die Karte mit Drachen und Riesen, Mäusen und Löwen, Elefanten selbstverständlich, von Rittern hoch zu Roß und einer Karikatur meines Auftragsziels bedeckt.
Es war eine saubere Leistung von ihnen, daß sie den genauen Punkt kannten, an dem er nach Flandern hineingeritten war, und wie sie ihm den ganzen Weg vom Schlachtfeld bis dahin gefolgt waren. Eigentlich nicht wirklich: Sie waren die ganze Zeit bei ihm geblieben. Aber nicht bei dem Mädchen. Es gab bestimmt Tausende und aber Tausende von Menschen hier an der Oberfläche, deren Akten nicht vollständig, umfassend oder auf dem neuesten Stand waren. Sie konnte nicht die einzige sein – und wenn sie es doch war, warum war sie dann die Ausnahme? Wahrscheinlich war das der Grund, warum der Erste hinter ihr her war: um herauszufinden, warum sie anders war. Oder vielleicht wollte er sie deshalb, weil sie eine Frau war, und nach allem, was man hörte, ein perfektes Exemplar dieser seltsamen Gattung. Hatte der Erste einen Harem? Machbar war das für ihn. Es konnte sein, daß er von Hunderten von Menschen umringt war. Er hatte sich aber offensichtlich zu seinem eigenen Schutz im Hintergrund gehalten; es mochte eine Menge Leute geben, die ihn gern tot gesehen hätten. Aber niemand sah ihn überhaupt jemals – lebendig oder tot. Ich aber würde es vielleicht schaffen, wenn ich das Mädchen zu ihm brachte.
Aber erst einmal mußte ich sie finden.
Er hatte sich eine neue Theorie zurechtgelegt. Sir Guy war in den nächsten paar Stunden an einer Anzahl von kleinen Dörfern vorbeigekommen oder hindurchgeritten. Manche waren verlassen, manche nicht, aber niemand kümmerte sich um ihn. Daraus hatte er geschlossen, daß der Mord an dem Grenzposten unentdeckt geblieben war, zumindest zur Zeit. Die Theorie sah ungefähr so aus:
Zauberer konnten nicht alles sehen oder wissen, wenn sie nicht selbst dabeigewesen waren oder einen Bericht davon erhalten hatten. Und jeder Zauberer war in der Lage, sich mit jedem anderen in Verbindung zu setzen und ihm zu berichten, was geschehen war. Wie sie das machten, wußte er nicht, aber Zauberer brachten viele Dinge fertig, die für alle anderen unmöglich waren. Deshalb war
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