Zeitfinsternis
mehr als ein paar knappe Sätze entlocken. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß er mir glaubte.
Jeder war für sich, wir waren keine Kameraden. Wir hatten nichts gemeinsam. Ich überlegte mir, ob ich ihn zurücklassen oder ihm vielleicht ein Pferd geben und ihn zurück ins Saarland schicken sollte. Was nützte er mir? Der Erste hatte mir zwar gesagt, ich solle ihn mitnehmen, aber, so sagte ich mir, der Saarländer war nur bei mir, weil ich es so wollte, und nicht wegen eines Befehls.
Die Schranke zwischen uns beiden wurde nie gehoben. Von Angel vertraute mir nicht, obwohl er mich nicht mehr mit solcher Ehrfurcht anzusehen schien. Das war mir nicht besonders wichtig: Als Beobachter oder Wächter war man auf sich selbst gestellt, und ich hatte es gelernt, ohne andere Menschen auszukommen.
Draußen gab es keine anderen Menschen. Würde ich es lernen, dort zu leben? Oder würde ich dort den Tod finden – niemand konnte lange im Draußen leben, und das hieß doch, daß dort der Tod wartete…
„Aufwachen!“ Er spürt, wie ihn jemand schüttelt.
„Bitte wach auf!“ Er erkennt die Stimme der Frau.
„Bitte!“ Er öffnet seine Augen, blinzelt und schaut sich verwirrt um. Er fragt sich, wo er ist – und wann er ist.
Es ist sehr dunkel. Sind die Lichter ausgefallen? M ASCHINE sollte da sein, um seine Zeitkoordinaten festzulegen. Wo ist sie? Aber haben nicht er und die Frau sie aus dem Schlafzimmer vertrieben? Als sich seine Augen an die düstere Beleuchtung gewöhnt haben, sieht er, daß sie auf jeden Fall nicht in seiner Wohnung sind. Sie sind allein in einem der Tunnels, und die einzige Beleuchtung kommt von einer Taschenlampe, die zwischen ihnen auf dem Boden liegt.
„Was…“ sagt er.
„Wir haben keine Zeit“, sagt sie und zieht an seinem Arm. Er steht auf. „Wir müssen schnell weg von hier. Bevor sie uns finden und umbringen.“
„Wer…“
Aber sie hat schon die Lampe aufgehoben und zieht ihn an der Hand durch den Tunnel. Es ist leichter, ihr zu folgen, als laut Fragen zu stellen. Sein Kopf ist noch immer dem Schlaf näher als dem vollen Bewußtsein. In seinem Kopf aber beginnt er sich zu fragen: zu fragen, wie sie hierhergekommen sind, was geschehen ist, wo M ASCHINE ist und wer sie umbringen will.
Noch nie hat er sich so völlig desorientiert gefühlt. Das letzte, woran er sich noch erinnern kann, ist, daß er einem von den Beobachtern Anweisungen gegeben hat. Und jetzt das hier, und ohne M ASCHINE , die ihm die Ereignisse der Zwischenzeit schildern und ihn auf den neuesten Stand bringen könnte. Seine Verwirrung wird durch die Tatsache noch vergrößert, daß er sich nicht mehr in seiner eigenen Wohnung befindet. Vielleicht hat M ASCHINE ihn angelogen, aber er hatte wenigstens eine gewisse Sicherheit dadurch, daß sie ihm überhaupt etwas erzählte. Aus seiner Erinnerung sprudelt die Information, er habe früher gedacht, die Frau könne behalten, was er M ASCHINE erzählte, um damit zu überprüfen, ob sie die Wahrheit sagte, wenn er es wieder vergessen hatte. Es sei denn, so wird ihm plötzlich klar, das M ASCHINE auch ihre Erinnerung manipulieren kann. Wo ist M ASCHINE aber jetzt?
Er verspürt einen Schmerz in seinem Magen, ein Gefühl, als zucke dort etwas und zöge sich zusammen. Er bleibt stehen, lehnt sich nach vorn und hält sich fest. Ist er krank? Ist er verletzt? Ist es denen, die ihn töten wollen – falls sie wirklich existieren – gelungen, ihn zu vergiften?
Die Frau bleibt stehen, als sich ihre Hände trennen. „Was gibt’s?“ fragt sie.
„Schmerzen“, sagt er. „Es tut weh.“
Nach ein paar Sekunden sagt sie: „Das ist Hunger. Du hast seit mehr als einem Tag nicht mehr gegessen. Du bist müde. Du hast nur einmal geschlafen, ein paar Stunden, das ist alles.“
Sie gehen weiter.
Mehr als einen Tag? Nur einmal
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