Zeitgenossen - Gemmas Verwandlung (Bd. 1) (German Edition)
nächsten Morgen wieder früh nach ihm verlangen würde, und wir verabschiedeten uns voneinander.
Jean-Marc und ich trafen uns auch in den folgenden Nächten der drei Wochen dauernden Seereise noch gelegentlich an Deck, um gemeinsam in den Sternenhimmel zu schauen. Ich erfuhr, dass Jean-Marc bereits in Neufrankreich geboren war, aber immer davon träumte, einmal das Heimatland seines Vaters kennenzulernen. Sein Großvater war wie Fontainebleau Pelzhändler und sein Vater war durch einen Jagdunfall gestorben, als er für ihn auf der Pelzjagd war. Daraufhin hatte der Großvater Jean-Marc zu sich geholt und ihn für sich arbeiten lassen.
Der Junge war sehr großherzig und reif für sein Alter und es tat mir aufrichtig leid, dass er von seinem Großvater nur als Arbeitskraft ausgebeutet wurde.
Unser Schiff erreichte schließlich den St. Lorenz Golf und bald darauf kam auch der Hafen von Québec in Sicht. Ungeduldig stand ich an Deck und beobachtete, wie sich das Schiff dem Hafen näherte, da entdeckte ich am Pier eine elegant gekleidete Frau. Zuerst, dachte ich, es sei Maddy, dann schüttelte ich den Kopf. Unter dem schicken Hut der Frau quollen eisgraue Löckchen hervor, also konnte es unmöglich Maddy sein. Als das Schiff anlegte, kam die Frau uns entgegengelaufen und winkte aufgeregt. Verblüfft erkannte ich nun, dass es doch Maddy war, und sie strahlte über das ganze Gesicht, als wir uns zur Begrüßung in die Arme fielen.
»Maddy! Woher wusstest du, dass ich heute ankommen würde?«, fragte ich freudig überrascht.
Maddy zwinkerte mir vergnügt zu. »Du hattest doch vorletzten Monat geschrieben, dass du dich auf die Rückreise machen wolltest. Und seitdem bin ich immer mal wieder zum Hafen herunter spaziert, um zu schauen, ob ein Schiff aus dem Süden anlegt. Und wie du siehst, hatte ich heute den richtigen Riecher.«
»Aber deine Haare?«, fragte ich verwirrt mit Blick auf ihre einst feuerroten Locken. »Was ist damit passiert?«
»Die sind gepudert«, flüsterte sie mir verschwörerisch zu. »Alexandre ist inzwischen 54, und die Sorgen über das Geschäft und die politischen Unruhen haben sein Haar schon ganz grau werden lassen. Unseren Freunden würde es sehr komisch vorkommen, wenn ich so gar keine Anzeichen des Alterns zeigen würde.«
Schlagartig wurde mir bewusst, dass über zwanzig Jahre vergangen waren, seit ich zu Maddy und Alexandre nach Québec gezogen war. Bereits als ich Québec für meine lange Reise verlassen hatte, hatten sich bei Alexandre schon die ersten grauen Schläfen abgezeichnet, aber ich hatte nie so sehr darauf geachtet, weil er mir als Freund inzwischen fast ebenso vertraut war wie Maddy.
Wir wiesen ein paar Hafenarbeiter an, mein Gepäck zur Villa der Fontainebleaus zu bringen und ich sah mich suchend nach Monsieur de Tiphaine und seinem Enkel um. Ich entdeckte sie schließlich weiter unten am Pier. Jean-Marc sah mich ein wenig wehmütig an, während sein Großvater gerade ein paar Dienstboten anherrschte, etwas vorsichtiger mit seinem Gepäck umzugehen. Ich merkte, dass der Alte gegenwärtig abgelenkt war, und so nahm ich Jean-Marc kurz beiseite. »Du hast dir doch meine Adresse gemerkt?«, fragte ich.
Jean-Marc nickte.
»Und du versprichst mir, dass du dich meldest, wenn du einmal Hilfe brauchst?«
Er nickte erneut.
»… darüber hinaus«, fügte ich hinzu, und er sah mich neugierig an, »kannst du mich natürlich auch einfach so mal besuchen kommen, wenn du möchtest.«
Jean-Marc strahlte mich an. »Oh, ja, Made …, Monsieur! Sobald mir Grand-Père einmal freigibt, mache ich das bestimmt gerne!«
Ich grinste und verwuschelte ihm zum Abschied die Haare.
Als wir im Herrenhaus ankamen, lief Maddy sofort durch die Eingangshalle und rief nach ihrem Mann. »Alexandre! Sieh nur, wen ich heute vom Hafen mitgebracht habe!«
Alexandre steckte fragend den Kopf aus der Tür zu seinem Arbeitszimmer heraus, dann lächelte er, kam auf uns zu, gab Maddy einen Kuss und schloss mich erfreut in die Arme.
»Gemma! Schön, dass du endlich wieder da bist! Madeleine war all die Jahre ganz unausstehlich ohne deine Gesellschaft.«
Maddy stupste ihn empört in die Seite. »Er hat dich mindestens ebenso vermisst wie ich«, erklärte sie dann lachend.
Da Maddy mich ja bereits daran erinnert hatte, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, konnte ich meine Überraschung darüber, wie sehr Alexandre gealtert war, recht gut verbergen. In seinem Gesicht zeichneten sich mittlerweile
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