Zeitgenossen - Gemmas Verwandlung (Bd. 1) (German Edition)
Pierre-Antoine sah einigermaßen verdrießlich drein, als ich mit Maddy das Arbeitszimmer betrat, nickte dann aber mürrisch, als ich erklärte, lediglich als stille Beobachterin mitgekommen zu sein.
Maddy ging mit ihm alle Geschäftspapiere sowie Alexandres Testament durch. Pierre-Antoines Gesichtsausdruck erhellte sich, als Maddy ihm klarmachte, dass sie beabsichtigte, ihn auch weiterhin als Verwalter des Gutes und aller dazugehörigen Ländereien zu beschäftigen. Er verdüsterte sich allerdings wieder, als sie hinzufügte, dass sie dies nur unter der Voraussetzung tun würde, dass er die Geschäfte auch in Alexandres Sinn führte, wovon sie sich in den nächsten Tagen bei den Pächtern selbst einen Eindruck verschaffen wollte.
Pierre-Antoine beharrte, dass dies überflüssig wäre, da es immer Lehnsmänner gab, die an ihm etwas auszusetzen hätten, aber Maddy ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Und so kam es, dass wir am Nachmittag zunächst ins Städtchen Fontainebleau gingen, um einen Hauslehrer für Jean-Marc zu engagieren und anschließend mit unseren Besuchen bei den Pächtern begannen.
Es stellte sich heraus, dass Pierre-Antoine geringfügig untertrieben hatte. Es waren nicht nur ein paar der Lehnsleute, die etwas an seiner Geschäftspolitik auszusetzen hatten, es waren nahezu alle. Fast immer mussten wir feststellen, dass Alexandres Cousin viel zu hohe Abgaben von seinen Pächtern verlangte und auch unablässig Dienste von ihnen und ihren Familien forderte, die regelrecht an Sklaverei grenzten.
»Jacques hat dem Herrn so viel beim Pflügen helfen müssen, dass er kaum dazu gekommen ist, unsere eigenen Felder zu bestellen«, berichtete uns eine Pächtersfrau schüchtern. »Zudem hatte er sich bei der Arbeit schwer verletzt, aber der Herr hat ihn nur ausgeschimpft.«
Maddy war mehr als erbost über diese Zustände und die nächste Unterredung, die sie zwei Abende später mit Pierre-Antoine daraufhin abhielt, fand zwar ohne mein Beisein statt, verlief dafür aber so lautstark, dass ich dennoch fast jedes Wort mitbekam. Maddy forderte von ihm, mit sofortiger Wirkung seine Pachtbedingungen zu ändern, da sie ihn und seine Familie andernfalls postwendend vor die Tür setzen würde. Wie sie mir dann anschließend mitteilte, war er wohl eingeschüchtert genug, um tatsächlich eilig alle entsprechenden Verträge zu korrigieren.
Darum zogen wir am nächsten Morgen erneut los, um allen Pächtern diese frohe Kunde mitzuteilen, auch jenen in den etwas entfernteren Ländereien, die wir bislang noch nicht aufgesucht hatten. Dabei stießen wir zu unserer Verwunderung auf ein kleines Grundstück, auf dem ein verfallenes Herrenhaus stand. Es bestand kein Zweifel, dass wir uns nach wie vor auf Fontainebleaus Besitz befanden, doch ähnelte dieses Haus trotz seines katastrophalen Zustands nicht im Geringsten den üblichen Bauernhäuschen seiner sonstigen Pächter.
Gespannt betätigten wir den voluminösen Türklopfer und wollten gerade schon wieder gehen, weil wir das Haus für verlassen hielten, da öffnete sich knarrend die Tür. Uns gegenüber stand eine winzige alte Frau in Dienstmädchentracht, deren aschgraue Haarsträhnen wirr aus ihrem Häubchen hervor lugten. »S’il vous plaît? Sie wünschen bitte?«, fragte sie leise krächzend.
Maddy stellte sich als die Witwe Alexandre de Fontainebleaus und mich als ihre Freundin vor und fragte, wer denn in diesem Haus wohne.
Das Gesicht der alten Frau erhellte sich freudig. »Der junge Monsieur Alexandre!« Dann trübte sich ihr Blick wieder. »Aber Madame sagt, er ist bereits tot? Pauvre Alexandre! Das wird den Marquis sehr betrüben.«
Maddy und ich wechselten einen Blick. Die Alte schien schon ein wenig verwirrt.
Doch dann begann sie wieder zu sprechen. »Aber wo habe ich nur meine Manieren? Kommen Sie doch bitte herein, Mesdames! Ich werde dem Marquis melden, dass Besuch für ihn da ist.«
Sie führte uns in einen Salon, der einst sehr elegant und farbenfroh eingerichtet gewesen sein muss. Inzwischen konnte man die Farben jedoch nur noch erahnen, da sämtliche Möbel, Vorhänge und Gegenstände von einer fast fingerdicken grauen Staubschicht bedeckt waren. Maddy und ich wagten nicht, uns irgendwo hinzusetzen, also schauten wir uns nur an und fragten uns, wo wir da hineingeraten waren.
Schließlich betrat das greise Dienstmädchen erneut den Raum, gefolgt von einem womöglich noch älteren Mann mit zerfurchtem Gesicht und schlohweißem Haar, das
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