ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
Anhöhe hinauf. Auf der Kuppe sammelte sie sich und blickte verklärt zum leuchtenden Horizont. Eine Weile stand sie still wie eine Statue. In ihren Augen spiegelten sich die Farben des Abendhimmels. Ihre weiße, weite Hose und die Seidenjacke standen in wunderbarem Kontrast zu den bis auf die Schulterblätter fallenden schwarzen Haaren, deren Spitzen ganz leicht im letzten Abendhauch tanzten. Das war zunächst die einzige Bewegung, die man an ihr hätte wahrnehmen können.
Edelweiß entfernte sich langsam, Schritt für Schritt, dabei den Hals tief über den duftenden Wiesenboden gebeugt. Nun begann Myrja ihren rituellen, in Super-Zeitlupentempo ausgeführten Bewegungsablauf mit dem Ausbreiten ihrer Arme. Selbst als sie zehn Minuten später auch noch mit einem Bein in der Luft eine langsam kreisende Bewegung ausführte, stand sie so unerschütterlich fest und still auf einem Bein, als wäre sie mit dem Boden verwurzelt, was sie in diesem Augenblick im übertragenen Sinne auch war.
Jemand, der zufällig des Weges gekommen wäre, hätte sich über diesen Anblick nicht mehr gewundert, denn Myrja war für das mit großem Ernst ausgeführte Ritual mittlerweile bekannt, und kaum jemand wäre dabei auf die Idee gekommen, dass diese Übung mehr als eine sportliche, wenn auch ungewöhnliche Übung war.
Für Myrja war es viel mehr: es war ihr Dank an die Elemente um sie herum, ihr Dank und ihr um Erlaubnis-Fragen, mit den verborgenen Geschöpfen des Waldes und der Luft in Kontakt treten zu dürfen, ihr Dank an ihren großartigen Körper, in dessen Tempel ihre Seele wohnen durfte - es war so viel mehr als jeder unbeteiligte Beobachter sich je hätte ausmalen können.
Sie beendete die 24-Bilder-Form, genoss noch eine volle Minute den Zustand der vollkommenen inneren und äußeren Harmonie, als sie auch schon Edelweiß hörte, die sich mit tänzerischem Schritt näherte und schließlich neben ihr stehen blieb. Die Stute schob sanft den Kopf von hinten über Myrjas Schulter. Ihre Barthaare kitzelten Myrja an der Wange.
Daraufhin löste sie sich aus ihrem stillen Verharren, schob eine Hand hinauf zum Widerrist der Stute und saß plötzlich, durch einen explosionsartigen Sprung aus dem Stand heraus, auf dem Rücken des Pferdes. Sie benutzte diese Art des Aufsitzens nur, wenn sie sich absolut unbeobachtet fühlte, da sie wusste, wie heftig unaufgeklärte Menschen dadurch erschreckt werden konnten und dass sie deswegen eine Vielzahl von Fragen hätte beantworten müssen.
In der Dunkelheit der angebrochenen Nacht sah die Schimmelstute mit ihrer weiß gewandeten Reiterin wie eine zu einer einzigen Form verschmolzenen Einheit aus, einem Fabelwesen nicht unähnlich, das nun in das Dunkel des Waldes eintauchte.
Obwohl sie nur fünf Stunden geschlafen hatte, erschien Myrja am nächsten Morgen pünktlich am Frühstückstisch. Ihre Mutter war damit beschäftigt, Lara ein Natur-Müsli zuzubereiten. Der kleine Rotschopf saß währenddessen still am Tisch und sah dabei zu. Myrja küsste ihrer Mutter die Wange und setzte sich. >Ich hab dich gehört, du bist erst um zwei Uhr in der Nacht zurückgekommen. Warst du wieder mit Edelweiß im Wald unterwegs?<
>Ja, das weißt du doch. Wir lieben das nächtliche Umherstreifen. Dann treten alle Formen besonders intensiv in Erscheinung, sodass ich deren Vitalfelder schon aus größerer Entfernung erkennen und studieren kann. Es ist eine so wundervolle Welt da draußen, Mutti. Sie hat mit der Tagwelt so wenig gemeinsam.< Edelgard Hoefner wusste um die besondere Begabung ihrer Tochter und förderte sie darin, wo sie nur konnte. Sehr deutlich erinnerte sie sich daran, wie ihre Große vor einem Jahr dem Förster geholfen hatte, eine sich gefährlich ausbreitende Baumkrankheit zu stoppen.
Myrja hatte die erkrankten Bäume nachts an ihren verfärbten Vitalfeldern erkannt und einfach nur mit ihnen gesprochen , so jedenfalls spielte sie ihre eigene Beteiligung an diesem wundersamen Geschehen herunter. Sie würde vermutlich auch bei Tieren und Menschen ähnlich positive Heilungsverläufe bewirken können, wenn sie nur erst das dafür erforderliche Wissen erlangt hätte. >Genieße du nur deine letzten freien Wochen, bevor deine Ausbildung an der Heilerschule beginnt. Dann wirst du wohl nicht mehr soviel Zeit finden, um mit Edelweiß herumzustreifen.<
Myrja widersprach: > Dazu sehe ich keinen Anlass. Du weißt doch, dass ich auch mit wenig Schlaf auskomme und
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