ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
Es war gebrochen, wie sich herausstellte. Das riss endgültig alle aus ihrem Ausnahmezustand. Rasch wurde der Sanitätsdienst gerufen und die Verletzte beruhigt und versorgt.
Der Vorfall war natürlich sofort Tagesgespräch an der gesamten Humboldt-Universität. Nele wurde zum Rapport zu ihrem Fakultätsleiter gerufen. Professor Doktor Uwe Kotschenreuther ließ sich von ihr den Ablauf der Geschehnisse berichten. Er ging dann näher auf das eigentlich von ihr beabsichtigte Ziel des Workshop-Experimentes ein: »Sie wollten den Teilnehmern zeigen, wie durch Meditation in Fluss gebrachte Energie Einfluss auf die erfahrbare Realität des Einzelnen nehmen kann. Habe ich das so richtig verstanden, Frau Kollegin?«
Nele konzentrierte sich auf ihre Antwort, jetzt bloß nicht verhaspeln oder unsicher werden. Sie blickte dem Dekan fest in die Augen. »Ja, ich projizierte Bilder in die Köpfe der Runde, um zu demonstrieren, dass das, was wir als Realität wahrnehmen, beeinflussbar ist. Ich wollte zeigen, dass es Parallel-Erfahrungsbereiche gibt, die von unserem Gehirn genau so für echt gehalten werden wie unser normal erfahrener Alltag.«
»Ja, das muss natürlich trainiert werden. Da haben wir in der Tat bereits einige Erfahrung und Geschicklichkeit entwickelt. Mir berichteten Teilnehmer, dass sie unglaublich reales Kopfkino erlebt hätten: Sie seien auf dem Jahrmarkt mit einer riesigen Schiffsschaukel gefahren, die plötzlich beim Abschwung in einen rotierenden Trichter gefallen sei und sodann zu einem völlig irrationalen Erleben geführt habe, das mit großer Klarheit einherging. Einige von ihnen hätten das als Grenzbereichs-Erfahrung oder als Nahtod-Erlebnis angesehen. Dann sei dieser beängstigende Vorgang plötzlich abgebrochen und sie seien real, also physisch, aus einer gewissen Höhe, in der sie sich befunden haben mussten, abgestürzt. Das führte sogar zu einer Unterschenkelfraktur. Wie und warum haben sie das ausgelöst? Das will ich jetzt genau von Ihnen wissen.«
Nele hatte diese Frage erwartet und sich entsprechend darauf vorbereitet. »Das frage ich mich natürlich auch. Ich hatte die Bilder der schwingenden Schiffsschaukel benutzt, um die Gruppenmitglieder auf einen gemeinsamen Atemrhythmus und eine damit einhergehende gemeinsame Schwingung zu harmonisieren. Die Teilnehmer erlebten das Auf und Ab der Schaukel sehr real. Das hörte ich an ihren Äußerungen, die sich genau so anhörten wie in der Realität auf dem Jahrmarkt. Das bewies mir, dass die von mir übertragenen Gefühle von den Teilnehmern als völlig real angesehen wurden.
Das Schlusserlebnis mit dem rotierenden Trichter, in den wir alle zu fallen glaubten, war so nicht von mir beabsichtigt. Ich habe schon häufig Mentaltrainings geleitet, und bisher gab es niemals eine vergleichbare Situation. Ich führe dies auf die Wirkung des Dodekaedernetzes zurück, in dessen Form ich die Teilnehmer ihre Isomatten auslegen ließ. Auf diese Idee kam ich spontan, als ich beim Zählen der Teilnehmerzahl feststellte, dass es genau fünfundzwanzig waren.«
»Sie denken an bisher unbekannte Auswirkungen durch das Anwenden heiliger Geometrie?«
»Dies als Ursache anzunehmen, erscheint mir am Wahrscheinlichsten. Ich werde meine Forschungen auf diesen Erklärungsansatz ausdehnen.«
»Hm, Frau Hesse. Derweil machen Sie aber bitte keine Experimente mehr mit unseren Studenten! Bevor wir nicht genauer wissen, was es damit auf sich hat, wollen wir kein Risiko eingehen. Berichten Sie mir bitte wöchentlich von Ihren Fortschritten und sagen Sie mir, wenn Sie Unterstützung brauchen.« Nele versprach es und ließ einen nachdenklichen Fakultätsleiter zurück.
Aufgeregt eilte sie zu ihrem Labor, denn, noch während sie ihrem Chef Rede und Antwort gestanden hatte, war ihr eine Idee gekommen, die sie sofort ausprobieren musste.
Nele war in Hochstimmung. Diesen Tag wollte sie feiern und ging deshalb ins Lady's Night , ihrem bevorzugten Szenetreff. Die Bar war noch nicht besonders gut besucht, aber das war kein Wunder, denn es war mitten in der Woche, und die meisten Besucher würden nicht vor Mitternacht eintreffen.
Das war ihr zunächst gleichgültig. Marischa, die heute Dienst hatte, lächelte ihr zu. Nele steuerte daraufhin deren noch leeren Tresen an und schob sich auf einen der Lederhocker.
»Na, wieder mal auf der Pirsch?«, fragend hob die Barfrau eine Braue.
»Hi, Marischa! Du hast es erraten. Hab
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