Zeitoun (German Edition)
rechtzeitig bemerkt, hätten sie ihn befreien können, doch jetzt konnten sie ihn nur noch zurück ins Meer werfen. Er würde die Tiere auf dem Meeresboden ernähren.
Der Schmerz in Zeitouns Seite wurde stärker, breitete sich aus. Er konnte nicht noch eine Woche länger hierbleiben. Er würde den Kummer nicht überleben, die Ungerechtigkeit.
Es war unmöglich, dieses Gefängnis als besserer Mensch zu verlassen. Nicht bei der Behandlung, die ihm zuteilwurde. Er hatte Bereiche von Hunt gesehen, die einen ordentlichen Eindruck machten, die sauber wirkten, gut geführt. Als er angekommen war, hatte er bei der Aufnahmeprozedur Häftlinge gesehen, die in dem grasbewachsenen Hof umherschlenderten. Aber er war dreiundzwanzig Stunden am Tag in seiner Zelle eingesperrt, ohne jede Abwechslung, ohne Gesellschaft oder irgendetwas Schönes. Diese Umgebung würde jeden gesunden Mann in den Wahnsinn treiben. Die grauen Wände, die blauen Gitter, die Leibesvisitationen, die vergitterten Duschen, die von Wärtern und Kameras überwacht wurden. Das Fehlen jeglicher geistiger Anreize. Er würde hier verkümmern, unfähig zu arbeiten, zu lesen, zu bauen oder sich weiterzuentwickeln.
Er hatte zu viel riskiert, weil er gehofft hatte, etwas tun zu können, das den Leistungen seines Bruders Mohammeds gleichkäme. Nein, das hatte nie eine bewusste Rolle bei seiner Entscheidung gespielt. Er hatte deshalb in der versunkenen Stadt getan, was er konnte, weil er da war, weil es getan werden musste und er es tun konnte. Aber war nicht irgendwo tief in ihm drin ein Funke Hoffnung gewesen, dass auch er seine Familie stolz machen könnte, so wie Mohammed das vor vielen Jahren getan hatte? Hatte er nicht doch den Wunsch gehabt, seinen Bruder, seine Familie, seinen Gott zu ehren, indem er alles in seiner Macht Stehende tat, indem er die Stadt nach Gelegenheiten absuchte, Gutes zu tun? Und war seine Inhaftierung nicht vielleicht Gottes Art, seinen Stolz zu zügeln, seine hochfliegenden Träume zu mäßigen?
Als die Gefangenen mit ihren Flüchen und Drohungen erwachten, betete Zeitoun. Er betete für die Gesundheit seiner Familie. Er betete um inneren Frieden. Und er betete um einen Boten. Alles, was er brauchte, war ein Bote, jemand, der seiner Frau sagte, dass er noch lebte. Jemand, der ihn mit dem Teil der Welt verband, der noch funktionierte.
SONNTAG , 18. SEPTEMBER
Zeitoun hatte den Vormittag über geschlafen, benommen und träge von der Hitze. Sein orangefarbener Overall war schweißgetränkt. Er hatte erfahren, dass sie nach dem Mittagessen wieder nach draußen durften, und er wusste nicht, ob er es schaffen würde, dafür aufzustehen.
Er war von sich selbst enttäuscht. Ein Teil von ihm hatte aufgegeben, und der Teil, der noch immer glaubte, stand fassungslos neben der kaputten Hälfte seiner Seele.
Die Räder des Medikamentenwagens hallten durch den Gang. Er hatte keinerlei Grund zu der Hoffnung, dass die Krankenschwester ihm helfen würde, aber er stand dennoch auf und machte sich bereit, sie noch einmal anzuflehen. Doch als er den Gang hinunterschaute, war es nicht die Krankenschwester, sondern ein Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
Er schob einen Rollwagen mit schwarzen Büchern und war einige Zellen weiter stehen geblieben. Er sprach mit irgendwelchen Häftlingen, und Zeitoun beobachtete ihn, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Der Mann war schwarz, etwa sechzig Jahre alt, und an der Art, wie er mit den Häftlingen umging, war klar zu erkennen, dass er ein Mann Gottes war. Die Bücher auf seinem Wagen waren Bibeln.
Als er fertig war und an Zeitouns Zelle vorbeikam, sprach Zeitoun ihn an. »Bitte, hallo«, sagte er.
»Hallo«, sagte der Missionar. Er hatte mandelförmige Augen, ein breites Lächeln. »Möchten Sie vielleicht etwas über Jesus Christus hören?«
Zeitoun verneinte. »Bitte, Sir«, sagte er. »Bitte, ich bin fälschlicherweise hier. Ich habe nichts verbrochen. Aber es weiß niemand, dass ich hier bin. Ich durfte niemanden anrufen. Meine Frau denkt, ich sei tot. Könnten Sie sie anrufen?«
Der Missionar schloss die Augen. Es war offensichtlich, dass er dergleichen oft hörte.
»Bitte«, sagte Zeitoun. »Ich weiß, es ist schwer, einem Mann in einer Zelle zu glauben, aber ich bitte Sie. Darf ich Ihnen nur ihre Nummer geben?«
Zeitoun hatte nur Kathys Handynummer im Kopf, und er hoffte, dass sie darüber erreichbar war. Der Missionar blickte den Zellenblock hinauf und hinunter und nickte dann.
Weitere Kostenlose Bücher