Zeitoun (German Edition)
in New Orleans, und Raleigh hatte zwar denselben Beruf ergriffen, sich aber zumindest äußerlich von ihm abgegrenzt. Er trug sein braunes Haar lang und meistens zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er arbeitete in der Innenstadt und nahm ganz unterschiedliche Fälle an, von Verkehrsverstößen bis hin zu Strafrechtsdelikten. Kathy war sicher, er würde wissen, wie man diese Hunt-Geschichte anpacken musste.
Es meldete sich niemand. Sie hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Kathy rief Ahmad in Spanien an und weckte ihn. Es war ihr egal.
»Er lebt!«, sagte sie.
Ahmad stieß eine ganze Reihe von Gottseidanks und Gelobtseigotts aus.
»Wo ist er?«, fragte er. »Bei dir?«
»Nein, er ist im Gefängnis«, sagte Kathy. »Aber keine Sorge. Ich weiß, wo er ist. Wir holen ihn da raus.«
Ahmad schwieg einen Moment. Kathy konnte ihn atmen hören.
»Wie? Wie willst du ihn da rausholen?«, fragte er.
Kathy hatte im Augenblick noch keinen Plan, aber sie hatte schon einen Anwalt, hatte ihn zumindest angerufen, und –
»Du musst dahin fahren«, sagte Ahmad. »Du musst zu ihm und ihn da rausholen. Du musst.«
Ahmads Tonfall beunruhigte Kathy. Zeitouns Inhaftierung schien ihm beinahe ebenso große Sorgen zu machen wie zuvor sein Verschwinden.
Kurz darauf rief Fahzia an, Zeitouns Schwester in Dschabla.
Kathy erzählte ihr die gute Nachricht. »Wir wissen, wo er ist. Er ist im Gefängnis. Es geht ihm gut.«
Wieder langes Schweigen.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Fahzia.
Kathy sagte, nein, aber sie wäre zuversichtlich, dass sie ihn bald sehen würde.
»Du musst zu ihm«, sagte Fahzia. »Du musst ihn finden.«
Am Nachmittag rief Raleigh Ohlmeyer zurück. Er war kurz vor dem Sturm nach Baton Rouge gefahren und dort geblieben. In seinem Haus in New Orleans stand das Wasser fast zwei Meter hoch.
Kathy erzählte ihm, was mit Zeitoun passiert war.
»Was?«, sagte Raleigh. »Ich hab ihn doch gerade erst im Fernsehen gesehen.« Er hatte in den Lokalnachrichten Zeitoun mit seinem Kanu gesehen.
Kathy erzählte ihm von den Anrufen des Missionars und des Heimatschutzbeamten, die Zeitoun beide in Hunt gesehen hatten.
Raleigh beruhigte sie. Er wusste bereits alles über Hunt. Nach dem Sturm hatte er ein provisorisches Büro in Baton Rouge eingerichtet und arbeitete schon für Häftlinge, die in das Gefängnis gebracht worden waren.
Das System ist zusammengebrochen, sagte er. Es gab keine Möglichkeit, Kaution zu stellen. Es würde einige Zeit dauern, bis alles wieder reibungslos ablief. Raleigh versprach, Zeitoun aus dem Gefängnis zu holen, aber angesichts des Zustandes der Gerichte – es gab praktisch keine – konnte er nicht vorhersagen oder versprechen, wie schnell das gehen würde.
DIENSTAG , 20. SEPTEMBER
Als Ahmad am Morgen Kathy anrief, klang er angespannt.
»Hast du Fahzia erzählt, dass Abdulrahman im Gefängnis ist?«
Sein Ton war schneidend.
»Ja, sie hat gefragt und –«
»Nein, nein«, unterbrach er sie, wurde dann aber sanfter. »Das sollten wir lieber nicht tun. Das regt sie alle bloß auf. Wir können ihnen nicht sagen, dass er im Gefängnis ist. Das können wir nicht machen.«
»Okay, ich dachte bloß –«
»Wir werden sie anrufen und ihnen sagen, dass es ihm gut geht, dass er zu Hause ist, dass es ein Irrtum war. Okay? Das müssen wir ihnen sagen. Du verstehst nicht, welche Sorgen sie sich machen werden, wenn sie denken, dass er im Gefängnis ist.«
»Okay. Soll ich –«
»Ich ruf sie an und sage ihnen, dass alles in Ordnung ist. Falls sie dich anrufen, sag ihnen dasselbe. Er ist zu Hause, er ist in Sicherheit, alles ist gut. Du hast dich geirrt. Okay? Das werden wir ihnen sagen. Okay?«
»Okay«, sagte sie.
Ahmad wollte wissen, in welchem Gefängnis Zeitoun saß. Kathy sagte ihm, dass es in St. Gabriel war und dass es eine ganze Weile dauern würde, bis sie auch nur hoffen durften, Abdulrahman herauszuholen, weil das Rechtssystem zusammengebrochen war. Aber sie hatte mit einem Anwalt gesprochen, und der kümmerte sich um den Fall. Es war nur eine Frage der Zeit.
Aber Ahmad dachte nicht einfach nur an Anwälte und Kautionen. Er wollte nicht, dass sein Bruder im Gefängnis saß, Schluss, aus. Ein Syrer im Jahre 2005 in einem amerikanischen Gefängnis – das durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Jemand musste zu Abdulrahman. Er musste sofort befreit werden.
Als Kathy das nächste Mal nach ihren E-Mails sah, fand sie eine Nachricht von Ahmad. Er hatte ihr
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