Zeitoun (German Edition)
hatten nicht viel miteinander geredet, aber es machte einen gewaltigen Unterschied, völlig allein zu sein.
Zeitoun versuchte, sich daran zu erinnern, wie hoch seine Lebensversicherung war. Er hätte eine höhere abschließen sollen. Er hatte nicht gründlich genug darüber nachgedacht. Die Frau von der Allstate-Versicherung hatte ihm geraten, sich mit über einer Million Dollar zu versichern, weil er doch vier Kinder hatte und sein Betrieb dringend auf ihn angewiesen war. Aber er konnte sich seinen Tod nicht vorstellen. Er war erst siebenundvierzig. Zu jung, um über eine Lebensversicherung nachzudenken. Aber er wusste, dass Kathy inzwischen nachgesehen hatte, wie hoch die Versicherungssumme war. Sie hatte ganz bestimmt begonnen, über ein Leben ohne ihn nachzudenken.
Als er sich vorstellte, dass seine Frau solche Pläne machen musste, ihn für tot hielt, tobte es in seinem Herzen. Er dachte voller Zorn an die Polizisten, die ihn festgenommen hatten, die Gefängniswärter, die ihn hier bewachten, das System, das all das ermöglichte. Er gab Ronnie die Schuld, dem Fremden, der in das Haus auf der Claiborne Avenue gekommen war, den er nicht kannte und dessen Gegenwart er sich nicht erklären konnte. Vielleicht hatte seine Anwesenheit den Verdacht auf sie alle gelenkt. Womöglich war Ronnie ja tatsächlich schuldig, womöglich hatte er irgendetwas angestellt. Er verfluchte Nassers Tasche mit dem Bargeld. Was für ein Dummkopf! Niemals hätte er dieses Geld mit sich herumtragen dürfen.
Kathy. Zachary. Die Mädchen. Die Mädchen würden vielleicht ohne ihren Vater aufwachsen. Falls Zeitoun in ein Geheimgefängnis verlegt wurde, würde sich ihr Leben radikal verändern: Sie wären nicht mehr die wohlhabenden Kinder eines erfolgreichen Mannes, sondern die verachteten Kinder des mutmaßlichen Anführers einer Schläferzelle.
Und selbst wenn er morgen oder nächste Woche wieder freikäme, von nun an hatten sie einen Vater, der im Gefängnis gesessen hatte. Es würden unausweichlich Narben zurückbleiben – sie hatten in der Angst gelebt, dass ihr Vater tot war, nur um dann zu erfahren, dass er mit vorgehaltener Waffe ins Gefängnis gesteckt worden war, dass man ihn zum Gefangenen gemacht hatte, ihn gezwungen hatte, wie eine Ratte zu leben!
Er hielt sich die Seite, drückte gegen den Schmerz an, versuchte, ihn einzudämmen.
FREITAG , 16. SEPTEMBER
Den Gefangenen wurde mitgeteilt, dass sie nach dem Mittagessen an die frische Luft dürften. Zeitoun hatte seit einer Woche keine Sonne mehr gesehen.
Während der Stunde, die sie im Hof verbringen durften, versuchte Zeitoun zu joggen, aber ihm war schwindelig. Also vertrat er sich stattdessen bloß die Beine und unterhielt sich mit anderen Häftlingen, wobei er eine unglaubliche Geschichte nach der anderen zu hören bekam.
Er sprach mit einem Mann, der ihm erzählte, er habe, kurz nachdem der Sturm New Orleans erreicht hatte, in seinem Haus Möbel vor dem Wasser in Sicherheit gebracht. Polizisten sahen das und drangen ins Haus ein. Als er seine Unschuld beteuerte, schlugen sie ihn zusammen und gingen wieder. Einige Tage später ging er zum Greyhound-Busbahnhof, um sich zu beschweren. Sie nahmen ihn fest und schickten ihn nach Hunt.
Doch kein Erlebnis war absurder als das, was Merlene Maten widerfahren war. Einer der Häftlinge hatte ihre Geschichte gerade im Fernsehen gesehen. Sie war nebenan in Hunts Frauengefängnis inhaftiert gewesen.
Maten war dreiundsiebzig Jahre alt, Diabetikerin und Diakonin in der Resurrection Mission Baptist Church. Vor dem Sturm hatten sie und ihr achtzigjähriger Mann sich ein Zimmer in einem Hotel in der Innenstadt genommen, um nicht allein zu Hause zu sein, falls sie Hilfe benötigen würden. Außerdem waren sie dort sicherer, weil das Hotel etwas höher gelegen war. Sie fuhren in ihrem Wagen zu dem Hotel und bezahlten das Zimmer mit Kreditkarte.
Nach drei Tagen in dem Hotel ging Maten nach unten, um ein paar Lebensmittel aus dem Auto zu holen. Bürgermeister Nagin hatte allen in der Stadt geraten, sich mit Lebensmitteln für drei Tage einzudecken, und sie hatte dementsprechend viel mitgenommen. Das Auto stand auf dem Parkplatz neben dem Hotel, und Maten hatte im Kofferraum eine Kühltasche voll mit Sachen, die ihr Mann gerne aß. Sie nahm eine Packung Würstchen heraus und war schon wieder auf dem Weg zurück ins Hotel, als sie hinter sich Rufe und Schritte hörte. Es waren Polizisten, und sie beschuldigten sie, einen Laden in der Nähe
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