Zeitoun (German Edition)
entfernt in einem Käfig eingesperrt gewesen war, wirkte im Gesamtzusammenhang wie ein großer Beweis von Mut und Mitgefühl.
Sie gingen mit dem befriedigenden Gefühl, das Wichtigste bekommen zu haben, den Führerschein. Angesichts des Gebarens, das die Strafverfolgungsbehörden der Stadt an den Tag gelegt hatten, war es schon fast ein Wunder, dass das Portemonnaie überhaupt wieder aufgetaucht war. Kathy hatte die Kreditkarten bereits sperren lassen. Alles Übrige konnten sie ersetzen.
Das war das letzte Mal, dass Kathy sich so zielgerichtet, so zornig fühlte. Jetzt ist sie unkonzentrierter. Sie wird zornig, aber nicht mehr so oft, und sie kann ihren Zorn nicht mehr so bündeln wie früher. Während sie früher bereit und willens war, jede Schlacht zu schlagen, tritt sie heute lieber den Rückzug an, verstärkt ihre Schutzmauern, verdoppelt die Schlösser an den Türen. Sie stellt fest, dass sie immerzu Angst hat, ihrer Familie könnte irgendetwas zustoßen. Ihr ist nicht wohl, wenn die Kinder draußen spielen. Sie möchte sie sehen können, sogar Nademah, die jetzt dreizehn ist und fast so groß wie Kathy. Sie beobachtet sie, wenn sie schlafen. Das hat sie vorher nie getan. Nachts sieht sie oft nach ihnen. Sie wacht auf und kann schlecht wieder einschlafen.
Nademah, schon immer verantwortungsbewusst, schon immer blitzgescheit, kümmert sich mit um ihre Schwestern. Zachary ist achtzehn, wohnt mit Freunden zusammen in New Orleans und arbeitet in einer von Adnans Subway-Filialen. Safiya und Aisha sind unverändert geblieben, unbeschwert und heiter, und singen noch immer für ihr Leben gern. Alle Kinder machen dem kleinen Ahmad, der am 10. November 2006 im East Jefferson Hospital zur Welt kam, das Leben leicht.
Ahmad ist nach Meinung aller ein ungewöhnlich zufriedenes Baby. Nie bekommt er zu wenig Aufmerksamkeit. Seine Schwestern wechseln sich damit ab, ihn zu halten, ihm gefährliche Dinge aus dem Mund zu nehmen, ihm vorzulesen, ihm ihre alten Sachen anzuziehen.
Zeitoun war dankbar für einen Jungen. Und der Name stand nie zur Diskussion. Ahmad war der erste und einzige Name, der infrage kam.
Zeitouns Bruder Ahmad wohnt noch immer in Spanien und arbeitet jetzt als Schiffsinspektor. Er kann es kaum erwarten, dass sein Bruder endlich mit dem Baby nach Málaga kommt. Es wird Zeit, dass er seinen Neffen, seinen Namensvetter kennenlernt.
Kathy arbeitet inzwischen weniger. Sie muss sich um das Baby kümmern, und ihr Verstand funktioniert in letzter Zeit nicht mehr so präzise, dass sie den ganzen Papierkram allein erledigen könnte. Sie bekommen jetzt Hilfe, von Ambata und anderen, wodurch Kathy etwas Freiraum hat, um Atem zu schöpfen, Mutter zu sein und zu versuchen, die letzten drei Jahre irgendwie zu verstehen.
Sie hat häufig Termine bei Ärzten. Ärzte, die herausfinden wollen, warum ihre Hände plötzlich taub werden. Ärzte, die ihre Verdauungsprobleme, ihre Gedächtnisprobleme untersuchen.
Die Ärzte haben Kathy gefragt, was für sie der traumatischste Teil der gesamten Katrina-Erfahrung war. Zu ihrer eigenen wie auch zur Überraschung der Ärzte nannte sie die Situation, nachdem sie erfahren hatte, dass Zeitoun lebte und im Hunt Correctional Center saß, sie ihn aber nicht sehen durfte und nicht einmal wusste, wo die Anhörung stattfinden würde. Es war der Moment, als ihr die Frau am Telefon sagte, der Ort der Anhörung sei eine »vertrauliche Information«, der den größten Schaden anrichtete.
»Ich fühlte mich wie aufgerissen«, sagte sie.
Dass diese fremde Frau um ihre Verzweiflung, ihren Kummer wusste und sie einfach abschmettern konnte. Dass es Prozesse ohne Zeugen geben konnte, dass ihre Regierung Menschen verschwinden lassen konnte.
»Daran bin ich zerbrochen.«
Frühmorgens und spätnachts und manchmal, wenn sie einfach nur dasitzt und den schlafenden kleinen Ahmad auf dem Schoß hält, ertappt sie sich bei der Frage: Ist das alles wirklich geschehen? Ist das in den Vereinigten Staaten geschehen? Uns geschehen? Es hätte vermieden werden können, denkt sie. So viele kleine Dinge hätten getan werden können. So viele Menschen ließen es geschehen. So viele schauten weg. Dabei ist nur ein Mensch erforderlich, eine kleine Tat, um von der Dunkelheit ins Licht zu treten.
Sie möchte herausfinden, wer dieser Missionar war, der sich von ihrem Mann im Gefängnis ihre Telefonnummer hat geben lassen – der Bote. Der Mann, der im Namen der Gnade etwas riskierte.
Aber hat er wirklich so viel
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