Zeitoun (German Edition)
riskiert? Eigentlich nicht. Normalerweise muss man gar nicht so viel riskieren, um ein Unrecht zu beheben. Es ist überhaupt nicht kompliziert. Es ist das Gegenteil von kompliziert. Eine Nummer zu wählen, die einem ein Mann in einer Zelle gegeben hat, der Stimme am anderen Ende zu sagen: »Ich hab ihn gesehen.« Ist das kompliziert? Ist das in den Vereinigten Staaten von Amerika schon ein heroischer Akt?
Es sollte keiner sein.
Kathy sorgt sich, dass ihr Mann jetzt zu schwer arbeitet. Er arbeitet jeden Tag, sogar sonntags. Er kommt zum Essen und zum Schlafen nach Hause, aber ansonsten arbeitet er, wann immer er kann. Und wie er das schafft, obwohl er montags und freitags auch noch fastet – er ist religiöser geworden –, ist ihr unbegreiflich. Er scheint noch weniger zu essen als zuvor und härter zu arbeiten denn je.
Freunde und Bekannte, die wissen, was Zeitoun nach dem Sturm widerfahren ist, fragen, warum er nicht in eine andere Stadt gezogen ist, in ein anderes Land. Er hätte doch zurück nach Syrien gehen können, irgendwohin weit weg von den Erinnerungen, die jetzt mit New Orleans verbunden sind. Tatsächlich hat er dunkle Gefühle, wenn er den Greyhound-Bahnhof passiert, wenn er an dem Haus auf der Claiborne Avenue vorbeifährt, wo er und zwei Bekannte und ein Fremder verschleppt wurden. Wenn er an dem Haus von Alvin und Beulah Williams vorbeikommt, dem Pastor und seiner Frau, spricht er ein kurzes Gebet für sie. Beulah Williams starb 2007. Reverend Alvin Williams starb 2008.
Wenn er an dem Haus von Charlie Ray vorbeifährt, seinem Nachbarn auf der Claiborne, winkt er, falls Charlie gerade auf der Veranda ist, was häufig vorkommt. Eines Tages nach dem Sturm tauchten Nationalgardisten bei Charlie auf. Sie erklärten ihm, dass er die Stadt verlassen sollte und dass sie ihm helfen würden. Sie warteten, bis er gepackt hatte, und dann trugen sie sein Gepäck in ihr Boot. Sie brachten ihn zu einem Evakuierungspunkt, von wo aus ihn ein Hubschrauber zum Flughafen flog und er ein Gratisticket nach New York bekam.
Seine Rettung erfolgte am selben Tag, an dem Zeitoun festgenommen wurde. Wenige Monate nach dem Sturm kehrte Charlie nach New Orleans zurück und wohnt heute noch auf der Claiborne.
Todd Gambino lebt jetzt in Mississippi. Er verbrachte über fünf Monate im Hunt Correctional Center. Er wurde am 14. Februar 2006 entlassen. Sämtliche Anklagepunkte gegen ihn wurden fallen gelassen. Bei seiner Einlieferung in Camp Greyhound waren ihm über 2400 Dollar abgenommen worden, und als er entlassen wurde, versuchte er, das Geld zurückzubekommen. Vergeblich. Für die fünf Monate in dem Hochsicherheitsgefängnis erhielt er keinerlei Entschädigung.
Nach seiner Entlassung arbeitete er zunächst auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko, wurde aber im Herbst 2008 entlassen.
Nasser Dayoob verbrachte sechs Monate in Hunt. Auch bei ihm wurde die Anklage in allen Punkten fallen gelassen. Als er entlassen wurde, wollte er die 10 000 Dollar zurückbekommen, die er bei seiner Festnahme bei sich gehabt hatte. Keine offizielle Stelle wusste etwas vom Verbleib des Geldes, und er bekam seine Ersparnisse nie wieder. 2008 ging er zurück nach Syrien.
Ronnie verbrachte acht Monate in Hunt. Seit seiner Freilassung im Frühjahr 2006 haben die Zeitouns nichts mehr von ihm gehört.
Frank Noland und seine Frau sind weggezogen. Fast jeder aus Zeitouns Nachbarschaft ist weggezogen. Verschwunden ist auch die Frau, die Zeitoun in ihrer Diele fand – die Frau, deren Rufe er hörte, weil er leise paddelte. Der neue Bewohner des Hauses weiß nicht, was aus ihr geworden ist, aber er hat die Geschichte von ihrer Rettung durch Zeitoun gehört.
Zeitoun denkt daran, wie schlicht und großartig zugleich das Kanu war, wie vorteilhaft es war, sich leise zu bewegen und genau hinhören zu können. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, suchten er und Kathy das Kanu dort, wo er es zuletzt gesehen hatte, am Claiborne-Haus, aber es war weg. Auch das Haus war geplündert worden. Alles war verschwunden, weil die Soldaten und Polizisten, die Zeitoun festnahmen, das Haus unverschlossen und unbewacht gelassen hatten. Diebe konnte ungehindert hineinspazieren und sich mit der gesamten Habe der Mieter aus dem Staub machen, mit allem, was Todd vor dem Wasser zu retten versucht hatte.
All diese Dinge wurden ersetzt, aber das Kanu fehlt ihm. Er hält die Augen offen, hofft, es irgendwo zu entdecken, vielleicht im Vorgarten eines Hauses oder auf
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